Die beiden Filmstarts, die wir diese Woche beleuchten, behandeln jeder für sich ein topaktuelles soziales Thema: “Seefeuer” widmet sich dem Sujet Flucht und Asyl, namentlich der humanitären Katastrophe vor der sizilianischen Insel Lampedusa; “Der Ruhelose” – der erste Teil der “1001 Nacht”-Filmtrilogie von Miguel Gomes – erzählt über die Folge der EU-Sparauflagen in seiner Heimat Portugal. Beide Produktionen mischen dabei verschiedenste Erzählebenen und bringen eine Menge anderer Geschichten neben ihrem jeweils erklärten Schwerpunkt unter. Was mal mehr, mal weniger gelingt.Man könnte es einen Film über das Leben auf und das Sterben vor Lampedusa nennen. Man könnte den italienischen Dokumentarfilm “Fuocoammare” (deutscher Titel “Seefeuer”) aber auch schlichtweg unverschämt nennen, weil er zwar zeigt, wie die, die immerhin lebend, aber teils völlig dehydriert, mit von Diesel und Salzwasser durchtränkten Kleidern ankommen, von stoischen Beamten auf Drogen untersucht werden, von Seenotrettern wie Vieh hin- und hergezerrt werden, letztlich aber weit mehr Zeit aufwendet Samuele, einen 12-jährigen italienischen Jungen, der mutmaßlich schon immer auf dieser Insel lebt, beim Heranwachsen zuzusehen: beim Schießen mit der Zwille auf (lebende) Vögel und Kakteen, beim Englischlernen, beim Arzt (er soll fortan eine Spezialbrille tragen, weil sein eines Auge “träge” ist) und gefühlt fünfzig weiteren Alltagssituationen, die allesamt nicht im Entferntesten (!) auch nur eine zufällige Begegnung mit auch nur einem einzigen Refugee in sich bergen…
Auch wenn es in Gianfranco Rosis Film nicht gerade um Samuele geht, werden auf Lampedusa ankommende afrikanische Flüchtlinge meist nur als anonyme Masse gezeigt. Wenn überhaupt jemand (abgesehen von einer Rapeinlage) von ihnen indivdiuell zu Wort kommt, dann indirekt, aus dem Off sprechend. Etwa wenn eine Frau an die Küstenwache in sprichwörtlich letzter Minute SOS funkt, weil einmal mehr eines der zumeist ohnedies halsbrecherisch anmutenden Transportschiffe, mit denen die Asylbewerber Leib und Leben riskieren, unterzugehen droht. Vor allem durch einen engaierten Arzt (der spürbar leidet, wenn er davon berichtet, dass es eine seiner Nebenaufgaben ist, bei Leichen einen Finger oder ein Ohr zur späteren Identifikation abschneiden zu müssen) ahnt man, dass auf der nur 20 Quadratkilometer großen Insel zumindest einige selbstlose, wirklich hilfsbereite Menschen leben. Und Hilfe auf zahllosen Ebenenen brauchen sie, die Flüchtlinge die hier ankommen. Aber ihre individuelle Not, nachdem sie halbwegs sicheren Boden unter den Füßen erlangt haben, ist nur bedingt mit einem beiläufig erzählten Fall einer Frau greifbar, die Zwillinge erwartet und von besagtem Doktor (dem man als Kinobesucher bei einer Ultraschalluntersuchung über die Schulter blickt) attestiert bekommt, dass durch die unvorstellbaren Reisestrapazen, das Fruchtwasser bei ihr auffallend verknappt sei…
Nicht nur wer sich in diesen Zeiten Filme wünscht, die den Finger wirklich schonungslos in die Wunde legen, etwa künstlerisch vor Augen führen – und nicht nur wie hier im Vorspann benennen – wieviele tausende Menschen auf ihrer Flucht ihr Leben lassen, auch daran gemahnen, dass die EU (und somit auch Italien und auch die Bundesrepublik) keine legalen Einreisemöglichkeiten beispielsweise durch visafreie Flüge für Refugees bietet (das Geld, welches sie bei ihren Boottrips lassen, würde dafür im Zweifelsfall ja oftmals reichen!) dafür mit ihren Frontex-und sonstigen menschenfeindlichen Programmen eine Politik der immer rigideren Abschottung fährt, mit Treibjagden auf hoher See gar aktiv zahllose Menschenleben auf dem Gewissen hat, sollte sich mit so einer Leinwandproduktion beim besten Willen nicht zufrieden geben! Denn wer die auch noch wiederholt mit ermüdenden Szenen rund um an einen lokalen Radiosender herangetragenen Hörer-Musikwünsche aufwartende Doku betrachtet, gewinnt einen von der Realität völlig gegensätzlichen Eindruck. Ganz so, als sei zwar die Anreise der Flüchtlinge ziemlich lebensbedrohlich, aber danach – ein wenig schräge Bürokratie, “okay – aber da kann man halt nix machen, erst recht nicht, wenn es um ‘unsere’ Sicherheit geht” – alles Friede, Freude, Eierkuchen?!? Obwohl es diese und zahllose weitere Defizite bei “Seefeuer” gibt, das ganze Werk gar ein bisschen danach riecht, “da behaupten wir auf dem Papier mal eine Menge Anspruch, das bringt Fördergelder und vielleicht beispielsweise einen Berlinale-Preis”, bringt der Film immer wieder unvermittelt derart drastische Bilder von der Situation als Bootsflüchtling oder Aufnahmen von Leichensäcken, dass er phasenweise unfassbar tief “unter die Haut” geht.
Das würden aber realistische 3-Minuten-Nachrichtengeschichten auch zustande bringen können! Aber die deutschen Mainstreammedien muten der Bevölkerung solche Wahrheiten bestenfalls in homöopathischen Dosen zu. Außer kurz vor Weihnachten – dann blasen sie zum nächsten Spendenmarathon; wieder mit ein paar aufgeblähten schwarzen Bäuchen oder weinenden Kinderaugen; bieten Abbitte, besser gesagt Gewissensberuhigung mittels EC- oder Kredit-Karte; Hauptsache die nächste Wiesn muss nicht abgesagt werden. Perverse Welt – es bleibt schwierig. Das kann natürlich kein Film der Welt ändern – dass auch wir das wissen, brauchen wir an dieser Stelle hoffentlich nicht weiter zu unterstreichen. Aber Themen ausschlachten und dann unterm Strich so unernsthaft – nein Danke! Denn wenn der 12-Jähige oder der Radio-DJ wenigstens theoretisch als Spiegel von zynischen, kalten Menschen gedeutet werden könnten, die täglich mit dem Schicksal der Gestrandeten in Berührung kämen und somit einzelne Zuschauer zum Nachdenken über sich selbst anleiten könnten – aber selbst so etwas kann man hier nicht ansatzweise hineininterpretieren. Zumal es eben keine faktischen Begegnungen zwischen diesen Einheimischen und den Menschen aus Afrika gibt. 18 Monate soll sich Regisseur Rosi auf der Insel aufgehalten haben – wären es drei Tage gewesen, hätte ein objektiver Zeitdruck bestanden, und wäre somit nur möglich, wenige erhaltene Impressionen von zwei verschiedenen Lebenswirklichkeiten gegeneinander zu schneiden: man könnte noch gnädig urteilen – so aber liebe Leser, wenn sie etwas zu Flüchtlingsfragen sehen wollen, sind sie mit “Cafe Waldluft” oder “Gestrandet” weitaus anspruchsvoller unterwegs. Schockbilder gibt es in jenen beiden Streifen (zwar) keine, dafür aber ein wirkliches Interesse an Menschen.
Letzteres kann man, um es vorweg zu nehmen, im Gegensatz zu “Seefeuer” Miguel Gomes für den Auftakt seiner “1001 Nacht“-Filmtrilogie glücklicherweise nicht absprechen. “Der Ruhelose” erzählt in mehreren Kapiteln über die Folgen der EU-Sparauflagen in seiner Heimat Portugal. Von realen Schicksalen Einzelner, die hier künstlerisch adaptiert wurden. Drumherum gleich zwei Klammern: Einerseits ein Film im Film – eine inszenierte, aber gleichwohl authentische Ratlosigkeit eines Filmschaffenden wie man mit diesem Menschen teils in Selbstmord treibenden Problemthema angemessen umgehen könne (“Einen schönen Film voller wundervoller und verführerischer Geschichten; zugleich ein Jahr lang Portugals aktuelle unglückliche Situation verfolgen – da versteht doch jeder Idiot, dass das nicht geht…”). Und andererseits der weitere Kunstgriff, sich an die Erzählweise einer Scheherazade anzulehnen. So kommt es, dass neben anrührenden Geschichten von Massenarbeitslosigkeit, von unmittelbaren Folgen von Spardiktaten für vormals offenbar recht rentable und wohl weitgehend human eingestellte Betriebe plätzlich Typen auftauchen, die EU-Beamte karikieren sollen. Auf Kamelen reitend begegnen die dann über kurz oder lang einem afrikanischen Zauberer, der ihnen sexuelle Strahlkraft verspricht, was dann aber vielmehr in anhaltenden und somit schmerzhaften Dauererrektionen mündet. Um sich vom vermeintlichen Segen, der sich als Fluch herausstellte, zu befreien, werden von dem Schamanen hohe Geldsummen gefordert, welche die “hohen” Herren natürlich nicht aus eigener Tasche begleichen wollen, sondern die Menschen des Gastlandes weiter zu schröpfen versuchen…
In einem weiteren Kapitel ist ein Richter bemüht zu erforschen, warum ein Hahn scheinbar sinnfrei und zu ungewohnten Zeit die Leute nervt, das Tier “flüstert” dem Mann, dass es die Menschen warnen wolle. Und damit ist selbst im ersten Teil noch nicht genug erzählt. Was gut sein könnte, wenn nicht davor schon und auch danach vieles sehr langatmig dargeboten würde. Überdies ist “1001 Nacht. Teil 1: Der Ruhelose” leider in seiner Gesamtheit auch zu verschwurbelt, in vielen Sequenzen künstlerisch zu bemüht. Gomes will auf Teufel komm raus anscheinend immer irgendwie doppelbödig wirken, auch satirisch. Kurzum: eine eierlegende Wollmilchsau auf die Leinwand bringen. Auch so kann Anspruch nach und nach verloren gehen. Immerhin bleiben die Überlebenskämpfe der “kleinen Leute” weitgehend nachvollziehbar, vor allem erscheinen die Geschichten universell. Der Film kämpft sozusagen auch für Menschen in beispielsweise Griechenland und Osteuropa – nicht nur für die (ebenfalls seit vielen Jahren) leidgeplagten Portugisen. Immherin ein interessanter Ansatz. Aber keiner der wirklich Lust macht, nun im 14 Tage-Rhythmus mit rieisger Vorfreude Teil zwei und drei entgegenzufiebern. Auch wenn die vielleicht silistisch völlig anders sein mögen. Wir kennen bisher nur “Teil 1”.