Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Mikrokosmos und Meeresgrund

Am 10. August 2023 haben gleich zwei absolut herausragende Filme ihren Kinostart: In „Black Box“ zeigt Regisseurin Asli Özge das Sinnbild unserer Gesellschaft am Beispiel von Bewohnern eines Berliner Hinterhofs. In dem chinesischen, sehr expressionistisch gestalteten Anime-Film „Deep Sea“ geht derweil ein kleines Mädchen bei einer Kreuzfahrt über Bord und landet in einer fantastischen Welt eines Unterseerestaurants. Vielleicht schafft sie es mit Hilfe eines magischen Wesens ihre Mutter, die die Familie verlassen hat, wieder zu sehen.

Black Box (Port au Prince Pictures)

In einen Berliner Hinterhof wird gerade mittels Kran ein Bürocontainer eingesetzt. In diesem nur formal gläsernen Fremdkörper residiert ab sofort Hausverwalter Horn (Felix Kramer), der fortan alles noch besser im Blick hat. Den Bewohnern, deren Häuser vermeintlich liebevoll modernisiert werden sollen, ist der Mann offenbar kein Unbekannter. Gravierende Veränderungen für die Menschen hier sind zum Greifen nah. Auch wenn gemunkelt wird, dass die renovierten Wohnungen gegebenenfalls auch von den aktuellen Mietern gekauft werden können. Horn, der gleich am ersten Tag von einem Unbekannten mit einem Ei beworfen wird, ärgert sich über zwei Eigentumswohnungen, in denen nicht nur Ausländer leben, sondern die auch noch immer von anderen Ausländern besessen und verwaltet werden – es fehlt ihm somit die Kontrolle auch über jene Mieteinheiten. Überdies gibt es wohl auch nicht erst seit heute Stress mit einigen Mietern wegen umgestellter Mülltonnen und den Gerüchten, dass die auf dem Areal befindliche, allseits beliebte Bäckerei einem Kunstatelier weichen soll. Kurzum: die Gentrifizierung ist in vollem Gange. Und als ob die allgegenwärtige Unsicherheit und die damit einhergehende Gereiztheit unter den Bewohnern nicht schon arg genug wäre, umringt urplötzlich ein Großaufgebot der Polizei die beiden Ausgänge des großen Grundstücks: keiner kommt mehr rein oder raus. Und es gibt keinerlei Information, wen oder was die Staatsmacht sucht oder wenigstens wie lange diese Zwangssituation voraussichtlich anhalten wird. Horn läuft zu Höchsttouren auf, gibt sich als Vermittler zwischen den Bewohnern und der Polizei, fabuliert aber zu auffällig beiläufig immer wieder von einer nun doch wohl unbestreitbaren Gefahr für alle hier. Ohne etwas wirklich Konkretes zu benennen, sammelt er zugleich Stimmen zum Beispiel für eine Stacheldrahtanbringung auf den Hausdächern oder Poller im Hofeingang um zumindest PKWs fernzuhalten… Alles  im Namen der Sicherheit. Eine breite Videoüberwachung sei nun wichtig, gleichzeitig dürfe es keine Ansammlungen von Mietern mehr geben. Die angespannte Atmosphäre ändert direkt das Verhalten fast aller Menschen in diesem Mikrokosmos: es wird getratscht, spioniert, verraten, einstige gute Bekannte gegeneinander ausgespielt…

In der Psychologie gilt “Black Box” als Metapher für sämtliche kognitiven und psychischen Prozesse, die man mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht objektiv messen, beschreiben oder reproduzieren kann. Auf ein Signal erfolgt eine Reaktion – was aber dazwischen passiert, ist unbekannt. “Black Box” heißt auch der wirklich in jeder seiner Phasern spannende und sehenswerte Film der Regisseurin Asli Özge, die ebenso authentisch wie beängstigend das Bild einer leicht manipulierbaren, in sich zerrissenen Gesellschaft zeichnet. Es bedarf nicht viel, Menschen gegen absolut unschuldige Dritte aufzuwiegeln, erst recht, wenn sie sich für sich selbst Vorteile oder zumindest das Verhindern von Nachteilen versprechen oder man ihnen, und sei es nur en passant, eine undefinierbare Bedrohung in die Hirne pflanzt.

Beim Gedanken an das Überbordwerfen von jedwedem sozialen Anspruch und Demokratieverständnis werden einem, wenn man nicht wie zahllose Medienvertreter und auch viel zu viele Künstler hierzulande vor dreieinhalb Jahren Pharmalobby und Panikpolitik nach dem Mund geredet hat, zwangsläufig Erinnerungen an die “Corona”-Zeit aufflammen – obwohl, nicht unwichtig zu erwähne, die Idee zum Film deutlich älter ist! Laut Aslı Özge („Men on the Bridge“ 2009, „Auf Einmal“ 2016, sowie die deutsch-belgische Krimiserie „Dunkelstadt“ 2020), habe sie schon vor der Pandemie an einem Skript über ein zerfallendes Gemeinschaftsgefühl gearbeitet und darüber sinniert, „wie einfach demokratische Strukturen aufgelöst werden können. Das Thema Gentrifizierung ist dabei eher Mittel zum Zweck, um auf die politische Lage aufmerksam zu machen, weltweit…“

Ihr von den belgischen Dardenne-Brüdern koproduzierter Film der eine überdurchschnittliche Kamerareit und ein perfekt ineinandergreifendes Darstellerensemble (u.a. Louise Heyer, Christian Berkel und Sascha Alexander Geršak) liefert, vermittelt schon in den ersten Minuten ein unwohles Gefühl im Magen der Zuschauer, das sich im Verlauf noch steigern wird. Selbst eingeschworene Großkapitalisten dürfte es mulmig werden – und sei es nur weil auch klar ist, dass die Figur Horn unter anderen Umständen das ernten könnte was er sät. Oder ist er am Ende gar kein Steigbügelhalter für ein Unternehmen, dass alle alten Mieter vergraulen will um eine Luxussanierung durchzuführen und die Stromschwankungen einfach auf die eine nun das Zeitliche segnende marode Technik zurückzuführen. So oder so: Einen Toten gibt es bereits, und auch eine vermeintlich nicht geimpfte Katze sowie eine hier vielleicht illegale Iranerin sorgt für zusätzliche Panik im Block.

Deep Sea (LEONINEStudios)

Nicht nur in Japan auch in China gibt es eine große Animationsszene, auch wenn man die hierzulande nicht wirklich kennt. Mit „Deep Sea“ kommt nun ein besonders farbenfrohes Abenteuer, das auch inhaltlich sehr emotional und überzeugend wirkt, erfreulicherweise auf die ganz große Leinwand. Es geht um das  Teenager-Mädchen Shenxiu. Die Mutter hat die Familie vor einigen Jahren verlassen, hält selbst via Textnachrichten offenbar kaum noch Kontakt zu ihrer Tochter, fordert diese gar explizit auf sich nur in wirklich dringenden Fällen bei ihr zu melden. Der Vater hat wieder geheiratet, der draus resultierende kleine Halbbruder zieht nun fast die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Immerhin: Zu Shenxius Geburtstag macht die Familie gerade eine Kreuzfahrt, es könnte also zur Abwechslung mal wieder ein schöner Tag werden. Doch gerade heute sehnt sich das Mädchen mit all ihrem Schwermut ganz besonders nach ihrer Mutter und erinnert sich an eine Geschichte, die diese mal erzählt hat: Es gebe ein magisches, vieläugiges Wesen namens Hyjinx…

Während eines schweren Sturms gerät das Mädchen über Bord und kommt in einer schier atemberaubenden Unterwasserwert zu sich: zahllose Farben wirbeln nur so umher, ebenso mitunter leicht utopisch anmutende Meeresbewohner, ab und an auch besagter Hyjinx. Dass Wesen bringt Shenxiu zu Nanhe, einem quirligen Koch und offenbar auch Kapitän eines wiederum knallbunten, fahrenden Unterwasserrestaurants. Er scheint zudem neben Shenxiu der einzige Mensch weit und breit: offenbar ist ihm jedes Mittel Recht, damit seine betont anspruchsvollen Restaurantgäste kräftig Geld da lassen; und so engagiert er das Mädchen für seine Küche. Sie arbeitet eher widerwillig, hofft vielmehr mit Hyjinxs Hilfe ihre Mutter wieder zu finden. Doch dann taucht das allseits gefürchtete Rote Phantom auf…

Die Idee an sich, durch Zufall, widrige Umstände und oder ein “zwischen Leben und Tod” sein in eine “andere Welt”/Realität zu gelangen, ist nicht neu. Regisseur und Drehbuchautor Tian Xiaopeng macht aber bereits nach wenigen Filmminuten jedweden Gedanken an irgendeine aufgewärmte Geschichte wett. Selbst im Bereich Animation/Trickfilm hat man tatsächlich schon ewig keine solch stimmige Explosion an Farben erleben dürfen, erst recht nicht so hypnotisierende, schlicht traumwandlerisch schön und doch irgendwie auch immer eine Spur beängstigende Unterwasserwelten. Seine Restaurantcrew und die Gäste sind Tiere und Fische mit menschlichen Zügen. Die unterhaltsame Geschichte über Sehnsucht, Freundschaft und dem Tod im Allgemeinen und der Innenwelt eines sehr traurigen Mädchens und einem oft ziemlich durchgeknallt wirkenden Clown-Koch des “Deep Sea”-Restaurants im Besonderen trägt trotz knapp zwei Stunden (!) Spieldauer bis zum Schluss: wo es dann nochmal ganz besonders emotional wird. Da wäre es unserer Einschätzung nach gut, wenn insbesondere Kinder unter zehn Jahren gegebenenfalls eine starke Schulter neben sich wissen. Schade ist einzig, dass der Streifen, der auch eine Menge Kapitalismus- und “Social”-Mediakritik transportiert, im normalen Kinobetrieb in Deutschland nicht wie bei manchem Festival-Einsatz in 3D zu genießen ist – sonst wäre das Filmerlebnis wahrscheinlich noch zwei Mal so prächtig. Aber auch so: ein absoluter MUST-SEE-Tip!



1 thought on “Mikrokosmos und Meeresgrund”

  • Ich durfte Deep Sea bei der Berlinale sehen – ein wirklich wunderbarer Film. Danke, dass Ihr anders als andere nicht nur die US-Cartoons vorstellt, sondern wirkliche Qualität unterstützt!

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