Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Mit falschen Freunden durch dick und dünn

Wenn der Silvesterschmaus verdaut und auch das letzte Weihnachtsgebäck aufgegessen ist, erwacht nicht zuletzt aufgrund von der Medien- und Werbeindustrie eingebläuter gesellschaftlicher Normen vornehmlich bei Frauen das schlechte Gewissen. Auch vor dem Hintergrund der ja irgendwann wieder ins Haus stehenden Badesaison stehen viele dann wegen ein paar angefutterten Kilos prüfend vor dem Spiegel der Umkleidekabinen, wo das schale Kunstlicht alle Unebenheiten des Körpers auch noch ganz besonders fies zur Schau stellt. Frauenmagazine verkaufen sich mit Diätvorschlägen besonders gut, halten sie doch wohl kalkuliert superdünne Models in ihren 36er Konfektionsgrößen als Maß aller Dinge penetrant vor Augen. Mit dem Wunsch, die Kontrolle über den eigenen Körper zu erzwingen, hungert sich durch solch fragwürdige Vorbilder mancher Jugendliche auf Haut und Knochen. Aber auch wer nicht dermaßen extrem lebt, hat’s oft – im übertragenen wie im wortwörtlichen Sinn – nicht leicht. Essen lernen fängt ja ohnedies bereits im Mutterleib an. Und wenn man als Schulkind wegen Zeitmangel der Eltern mit leerem Magen, aber mit ein paar Euro Taschengeld in die Schule geschickt wird, leiden im Extremfall durch den mit Süßigkeiten weggefutterten Appetit nicht nur die Noten, sondern eben wiederum die Formen: Die Deutschen werden immer dicker, schreien Forscher und Ärzte. Und die Politiker nehmen das nur allzu gern als Wahlkampfthema auf und schieben dem Prekariat, das eben sogar zu doof zum Essen ist, die Schuld in die Schuhe. Gesellschaftliche Grundübel werden hingegen kaum diskutiert, geschweige denn, dass der Lebensmittelindustrie, die sogar in sogenannten fettarmen Produktreihen versteckte Dickmacher bereithält, Konsequenzen drohen.

von Nino Ketschagmadse

Kosmetik, Mode, Lebensmittel, Autos, Versicherungen: Frauen verkaufen alles. Mit ihrer Jugend, mit ihrem langen schlanken Körper ohne nennenswerte Rundungen, mit glatter, fast seidenhaft er nackter Haut, schönen Gesichtern ohne jegliche Falten und mit Schmollmündern, die einen von Plakaten, Bildschirmen, Hochglanzmagazinen anlächeln. Sie scheinen glücklich zu sein, erotisch, erfolgreich, richtig cool. Kein Wunder mit dieser Figur, denkt mit Neid eine Otto-Normal-Verbraucherin und kauft oft das beworbene Produkt, um so diesem Glück, der Coolness etwas näher zu kommen. Während bei männlichen Models, die mit der Zunahme der Produktreihe zum Beispiel im Kosmetikbereich für das starke Geschlecht immer mehr werden, der natürliche Körperbau eines Mannes betont wird – breite Schultern, schmale Taille –, so sehen die Verbraucherinnen sich mit „Vorbildern“ konfrontiert, die gar nichts mit der Realität der weiblichen Figur zu tun haben.

Traumfigur aus der Werbung

Der Schlankheitskult hat eine lange Geschichte: In Europa ab 1910, in den USA schon ab 1890 wurde er zur allgemeinen Modeerscheinung. Moderne Frauen trugen Bubikopffrisuren und hatten idealerweise knabenhaft e Körper. Bei der entstehenden Nudistenbewegung galt der schlanke, sportliche Körper als Ausdruck von Naturverbundenheit und stand im – auch politisch – verstandenen Kontrast zum dicken Bauch der Adeligen und Reichen. Dieses Schönheitsideal ist dem heutigen sehr ähnlich. Allerdings war das Idealmodel niemals so extrem untergewichtig. Der sogenannte „tubular body“ – der schlauchförmige Körper – gilt heute als Traumfigur, die ohne jegliches Körperfett daherkommt. Dabei setzt eine Frau von Natur aus durch das weibliche Hormon Östrogen im Laufe der Zeit Fett an. Je schlanker die Werbefiguren werden, desto mehr legen Durchschnittsfrauen an Gewicht zu: Konfektionsgröße 34 kontra 42. Dabei sind es kaum fünf Prozent aller Frauen, die körperliche Voraussetzungen der heutigen Traumfigur von der Natur her haben. Dazu kommt, dass Modelaufnahmen nachträglich digital bearbeitet werden.

Sich bis zu Haut und Knochen hungern

Wenn man auch weiß, dass Werbefiguren nicht der Realität entsprechen, verunsichert diese mediale Anbetung der Jugend und der Schlankheit doch viele. Der eigene Körper wird in Frage gestellt und auf Biegen und Brechen versucht, diesem Idealbild näher zu kommen. Mädchen und junge Frauen lassen sich dabei stark beeinflussen. Monika Gerlinghoff und Herbert Backmund (Buchautoren von „Essen will gelernt sein“), die am Münchener Therapie-Zentrum für Essstörungen arbeiten, haben schon vor mehr als zehn Jahren eine eigene Erhebung an knapp 800 Schülerinnen und Schülern der 5. Jahrgangsstufe an Gymnasien in München Stadt und Land durchgeführt und festgestellt, dass nicht wenige der 9 bis 13 Jahre alten Kinder sich schon damals um ihre Figur sorgten, nämlich knapp 50 Prozent der Mädchen und 36 Prozent der Jungen. Wenn dieser Wunsch zu stark wird, erkranken vor allem junge Frauen zwischen 12 und 25 Jahren an Essstörungen, was im medizinischen Sinne eine seelische Krankheit darstellt. Es wird unterschieden zwischen der Magersucht (Anorexia nervosa), der Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und der Ess-Sucht (Binge-Eating-Störung). Sehr selten, im Vergleich 1:20, erkranken auch Jungen.

Die Häufigkeit der Magersucht wird international auf 0,5–1 Prozent der Frauen dieser Altersgruppe, die der Bulimia auf 2–5 Prozent geschätzt. Dass Models oder auch Balletttänzerinnen davon stark betroffen sind, ist allgegenwärtig. Tabuisiert hingegen ist das Thema beim Leistungssport, zum Beispiel bei Turnerinnen. Das Gefühl, über den Körper zu triumphieren, ist so berauschend, dass es fast unmöglich wird, wieder zum normalen Umgang mit der Nahrungsaufnahme zu finden. Die Zusammengehörigkeit der Ess-Störungs-Betroffenen wird durch umstrittene Netzwerke wie die Pro-Ana-Bewegung verstärkt, die die Magersucht zu einer Art der Selbstverwirklichung, der Souveränität und der Macht über den eigenen Körper versteht, die gegen eine feindselige Umwelt verteidigt werden muss.

Das junge Hirn braucht warmes Frühstück

Die Weichen zur gesunden Ernährung werden bereits im Mutterleib gestellt. Neugeborene akzeptieren bestimmte Lebensmittel und Aromen besser und leichter, wenn diese während Schwangerschaft und Stillzeit konsumiert werden, die Muttermilch spielt eine wichtige Rolle bei der Ausprägung des Geschmackssinnes der Babys. Außerdem übernehmen kleine Kinder das Essverhalten der Eltern. Dabei ist nicht nur gesundes Essen in der Wachstumsphase besonders wichtig, sondern auch die geregelte Nahrungsaufnahme. Ein Viertel aller Kinder drücke die Schulbank mit leerem Magen, so bereits die 2000er Zahlen aus dem Ernährungsbericht der Bundesregierung. Nach einer Studie der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) zehn Jahre später waren es schon ein Drittel. Und bei den Jugendlichen zwischen 18 und 21 Jahren – 45 Prozent. Ohne Frühstück fehlt dem Hirn der nötige Treibstoff . Man könnte rätseln, ob es an den kostenlosen warmen Mittagessen liegt, die es schon seit 1948 in Finnland für alle Schulkinder gibt, dass Finnen als PISA-Spitzenreiter gelten.

Aber: Wer ohne Essen in die Schule geht, leide an Konzentrations- und Leistungsschwächen, so eine Ernährungsexpertin der DAK. Einige Schulen sind nun dazu übergegangen, für Kinder Notfallboxen mit Keksen, Zwieback oder Müsliriegeln in Klassenzimmer zu stellen oder belegte Brötchen zu organisieren. Kinder, die statt einer – idealerweise warmen – Mahlzeit mit ein paar Euro in der Tasche morgens zur Schule geschickt werden, besorgen sich in den Schulpausen eher Chipstüten oder Süßigkeiten. Und mit jedem zugelegten Kilo wird der Aufschrei im Lande lauter, die Nation werde übergewichtig.

Dick gleich arm gleich dumm?

„20 bis 25 Prozent aller Kinder sind übergewichtig. Fast jedes achte Schulkind ist fettsüchtig – drei Millionen Kinder in der Bundesrepublik werden wegen Fettleibigkeit ärztlich behandelt. Jeder zweite Erwachsene hat Übergewicht“, so die Schlagzeilen aus den Jahren 1976/77 nach dem Erscheinen des dritten Ernährungsberichts der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Bei der Schuldsuche gerieten die „fragwürdigen Kochkünste“ der deutschen Hausfrau ins Visier. Sie seien Ernährungsdilettantinnen, bei denen der zwanzigjährige Massentourismus nach Italien keine Spuren in den alltäglichen Speisekarten hinterlassen habe, schimpft e man über die Frauen. Bereits Anfang 2008 stellte die Zweite Nationale Verzehrsstudie fest: 51 Prozent der Frauen und 66 Prozent der Männer sind übergewichtig, jeder fünfte fettsüchtig. Dazu kam die Untersuchung des Robert-Koch-Instituts: 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche sind dick, rund 800.000 adipös. Diesmal war es die Unterschicht, die laut den Medien die Waage nach unten drückte. Das Problem sei nicht das wenige Geld, das Arme für die Ernährung zur Verfügung haben, sondern ihre Disziplinlosigkeit beziehungsweise ihre mangelnde Bildung. Adipositas sei ein Problem des Prekariats und nicht der Moderne. Wer dick oder übergewichtig ist, bestimmt seit der WHO-Konferenz 1997 weltweit einheitlich der Body-Mass-Index (BMI), dessen Einführung die Zahlen der Übergewichtigen hat sprunghaft wachsen lassen. Als geistiger Vater der „Übergewichts-Epidemie“ gelte die International Obesity Taskforce (IOTF), schrieb schon vor mehr als zehn Jahren Friedrich Schorb in seinem Buch „Dick, doof und arm? – Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert“.

Sie besteht seit 1995 als ein informeller Zusammenschluss von Medizinern, die sich der Bekämpfung und Behandlung von Übergewicht und Adipositas verschrieben haben. Mittlerweile gehört sie zur International Association for the Study of Obesity (IASO). In der öffentlichen Wahrnehmung als unabhängige Nichtregierungsorganisation geltend, bekam sie zumindest vor einigen Jahren rund 2/3 des Etats von Pharmakonzernen wie Hoffmann La Roche, Johnson & Johnson oder Novo Nordisk. So wurde IASO vorgeworfen, durch eine übertriebene Darstellung der Übergewichtsproblematik der Pharmaindustrie in die Hände zu spielen. Denn nicht nur mit Schlankheitspillen lässt sich gutes Geld verdienen. Bei sogenannten Risikokrankheiten wie Bluthochdruck, Blutzucker oder Cholesterinspiegel habe die massive Lobbyarbeit der Pharmaindustrie – die auch schon vor dem “Corona”-Thema oftmals maß- und schamlos war – dafür gesorgt, dass die Grenzwerte so lange gesenkt wurden, bis die Mehrzahl der Bevölkerung in mindestens eine der zahlreichen Risikogruppen fiel.

Die süßen Fallen der Lebensmittelindustrie

Während die Regierungen von Deutschland, Großbritannien, Japan oder den USA staatliche Kampagnen gegen Übergewichtige planen, erfreut sich die Lebensmittelindustrie an dem Erfolg ihrer sogenannten Wellnessgetränke, fettarmen Milcherzeugnisse oder Süßigkeiten. Die Ernährungswissenschaftlerin Annette Sabersky sowie der Soziologe und Sportwissenschaftler Jörg Tittlau zeigten vor über zehn Jahren in ihrem Buch „Versteckte Dickmacher“, auf was Gesundheitsbewusste, egal ob dick oder dünn, achten sollten. Am erfolgreichsten werde der menschliche Geschmackssinn mit Süßem betört. Werde man frühzeitig auf hohe Süß-Dosierungen geeicht, falle es einem später schwer, sie herunterzufahren. Das Gleiche gilt für salzige, fette und glutamathaltige Speisen. Je weniger Aufwand beim Essen, desto schnelleres Esstempo, desto mehr verleibt der Mensch sich ein. Psychologisch sehr verlockend zum Beispiel die XXL-Angebote, ob bei Fast-Food-Ketten oder im Supermarkt – „XXL-Delikatess-Leberwurst“, „Nutella“ +75 g gratis etc. Es wird zugegriffen und gleich gefuttert, egal ob Produkte länger halten oder nicht. Das Geld, das die Lebensmittelindustrie verdient – ihr Anteil am Welthandel beträgt etwa 11 Prozent –, macht sie nicht mit Gemüse oder Obst, sondern mit tierischen Fetten, Zucker und Alkohol, die allesamt mehr oder minder abhängig machen.

Geschmacksverstärker vor allem in Fertigkost erhöhen den potenziellen Suchtcharakter der modernen Nahrung. Drei Millionen Tonnen Tiefgefrorenes landet allein in Deutschland auf den Tellern, die eine Hälfte davon in Privathaushalten, die andere in Fast-Food-Ketten oder Kantinen. Neben bekannten Problemen über Glutamat, Weichmacher oder hormonähnliche Substanzen in Fertignahrung weiß man heute auch, dass synthetischer Zuckerersatz die gleiche Wirkung für den Körper hat wie auch normaler Zucker. Der Verzehr von Süßstoff befriedige nicht das Bedürfnis nach Süßem, sondern verstärke es, zitieren Sabersky und Tittlau wissenschaftliche Forschungen. Die größte Lüge kommt mit sogenannten fettarmen Produkten, vor allem bei Milcherzeugnissen. Wo Fett fehlt, müssen andere Geschmacksträger ran, und sehr häufig ist das Fruchtzucker (Fruktose), der im Verdacht steht, ein echter Dickmacher zu sein.

Frieden mit dem eigenen Körper schließen

Das Problem Übergewicht sei eine gegeneinander wirkende Entwicklung zwischen einer sich etablierenden Entwicklung in der Überflussgesellschaft und einer gleich bleibenden evolutionären Programmierung auf maximalen Verzehr, wenn dieser möglich ist („Esse so viel du kannst, wenn etwas verfügbar ist, und zwar möglichst viel Fettes und Süßes“), sagte vor Jahren Ernährungs- und Haushaltswissenschaftler Christoph Klotter, dereinst Professor an der Hochschule Fulda: „Selten in der Menschheitsgeschichte ist für eine bestimmte Personengruppe (Menschen in Industrieregionen) die Versorgung von Lebensmitteln so dauerhaft sichergestellt. Außerdem leben wir in einer Umwelt, die aufgrund der Technisierung nicht gerade zu körperlicher Aktivität einlädt. Lebensmittel und Essen insgesamt bilden eine komplexe Sprache, die untrennbar zu einer bestimmten Kultur gehört und sie sogar konstituiert.“ Die Schlankheitsnorm in der Moderne sei ein Bollwerk gegen die Moderne, gegen die Pluralisierung von Lebenswelten, gegen die Individualisierung. Sie versuche alle gleichzumachen. Den Spruch von Brandt – „Mehr Demokratie wagen“ – mochte Klotter auch auf eine Politik der Körper angewandt wissen, so dass jeder und jede entsprechend seiner oder ihrer Konstitution und Façon glücklich werden möge.

 



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