Mit “Neben den Gleisen” und “Ein deutsches Leben” beschäftigen sich – wenn auch nur indirekt – gleich zwei eindringliche Dokus, die diese Woche neu im Kino starten, mit der Frage, wie Menschen zum Mitläufer bzw. vollkommen empathielos werden (können) und ihr eigenes Denken sowie ggf. auch ihr Handeln nicht (mehr) reflektieren. Der eine Film handelt von Goebbels’ Sekretärin, der andere von “ganz normalen” Stammtischparolen.
Schauplatz der letztgenannten Geschichte ist ein Boizenburger Bahnhofskiosk – eine knapp halbstündige “Fernsehfassung” über dessen Stammgäste lief vor rund einem Jahr bereits im Öffentlich-Rechtlichen. Und um es vorweg zu nehmen: Die Doku von Dieter Schumann (“flüstern & SCHREIEN”) ist es trotzdem wert, sie in nun ganzer Spielfilmlänge im Kino zu sehen. Nicht immer schimpfen die portraitierten Bewohner der westmecklenburgischen Kleinstadt auf “die vielen Flüchtlinge”. Mal lästern sie auch allgemein über “das System”, schauen Fußball, reden über ihre Zipperlein oder – relevanter – über die Zumutungen der heutigen Arbeitswelt. Manchmal schneiden sie sich aber auch bewusst selber das Wort ab, beißen sich sprichwörtlich auf die Zunge, weil sie teilweise zumindest noch merken, dass andere ihre abfälligen Bemerkungen, beängstigend finden könnten. Und trotzdem kam es vor der von Michael Kockot unaufgeregt geführten Kamera zu “Niggerdorf”-Sprüchen oder gar Sätzen a la “Wenn mir ein Flüchtlinge, der ‘dicke Hose schiebt’ über’n Weg läuft, hat er kein langes schönes Leben mehr.“
Täglich mindestens von 5.00 Uhr bis 22.00 Uhr lockt der Kiosk vor allem Schichtarbeiter aus den Schlachthöfen und dem Ableger einer fränkischen Gummibärchenfabrik, aber auch Arbeitslose und Rentner an. Die Flüchtlinge des nahegelegenen “Erstaufnahmelagers” Nostorf/Horst, die hier regelmäßig umsteigen müssen, sind häufig Thema; für einen Taxifahrer, der sich tagtäglich für Kleingruppen als günstigere Alternative zu dem ohnedies mit schlechten Takt- und sehr kurzen Betriebszeiten aufwartenden öffentlichen Pendelbus anpreist, die primäre Einkommensquelle.
Wie bei ihm und anderen Boizenburgern – auch ein Russe, der in einem “früheren Leben” Arzt war und ein Pole zählen zu den interviewten Stammgästen, die Beiden reden indes nicht wirklich über “Politik” – abstrakteste Vorurteile, viel grundsätzlich Menschenfeindlches und gar aberwitzigste Gerüchte (es sei ja schon vorgekommen, dass “die” auch Menschen aufessen würden: “Eine Fünfjährige wurde gegessen, lebendig, stand auf Facebook…”) “verhandelt” werden, macht einen selbst als sogenannter “Gutmensch” letztlich nicht mal besonders wütend oder fassungslos, auch entsteht nicht das Gefühl, dass die Kioskbesucher dort alle ein Rad ab haben. Der Film schafft es vielmehr zu vermitteln, dass die, die teils so dummdreist blöken oder gar gezielt hetzen, nicht für durchweg kackbraune Socken gehalten werden müssen, sondern es wird klar, dass die meisten nur nachplappern, was ihnen CSU, AFD und Co. vorgaukeln, und dass sie tatsächlich selber durch die Mechanismen der “Wende” – der deutschen “Wiedervereinigung” – gnaden- und aussichtslos an den Rand, auf’s sprichwörtliche Anstellgleis gedrängt wurden. Leider merken sie nicht, dass das Treten gegen die noch ärmeren Schweine – die Refugees – inhaltlich grundlos und von diesem “System” gewollt ist. Auch wenn sie bezeichnenderweise nicht im Kiosk verkehren, kommen in der Doku übrigens auch einige syrische Flüchtlinge zu Wort, erklären, dass sie schlichtweg von einem friedlichen, relativ sorgenfreien Leben träumen. Nicht mehr, nicht weniger als ein theoretisch universell geltendes Menschenrecht.
„Ein deutsches Leben“
Vor wenigen Wochen ist sie im Alter von 106 Jahren gestorben. Brunhilde Pomsel, jahrelang Joseph Goebbels Sekretärin und damit Teil des engsten NS-Führungszirkels und “am Ende” auch noch im “Führerbunker” in Berlin. Eine 113 Minuten lange Doku zeigt fast pausenlos nur sie, manchmal schweigend in extremer Großaufnahme, aber meinst Lebensstationen und “Erinnerungen” erzählend, in denen sie sich letztlich durchweg (!) als unbedeutendes Rädchen im Getriebe, als nahezu a-politisch darstellt und immer wieder einflicht, dass eine ihrer besten Freundinnen – die sie sich auch bis zuletzt (beispielsweise mit Kaffeeinladungen weil sie kaum Geld gehabt hätte) stets unterstützt hätte (und auch direkt nach ihrer eigenen Freilasung aus fünf Jahren dauernder russischer Gefangenschaft versucht hätte herauszubekommen, was mit ihr “am Ende” passiert ist) – eine hübsche, “aber” bereits äußerlich unverkennbare Jüdin namens Eva war.
Die Gespräche mit Pomsel entstanden dem Vernehmen nach in zwei Blöcken – vor rund vier und vor knapp drei Jahren. Einige zeitgeschichtliche Filmeinspieler – insbesondere irgendwelche Kinder die Cowboy und Indianer spielen -, die das teils unerträgliche Kleinreden der eigenen Verantwortung unterbrechen (aperiodisch tauchen auf schwarzem Grund auch Texttafeln mit teils recht banal anmutenden Goebbels-Zitaten auf), wirken mitunter deplatziert oder zumindest aufgesetzt. Andere Doku-Bilder aus den 1930er und 40er-Jahren, etwa ausgemergelte, wohl aus KZs geborgene Leichen, hingegen gehen naturgemäß noch stärker in die Magengrube als alles, was diese Frau, die der Karriere wegen 10 Mark abknappste – seinerzeit rund 1/10 eines guten Monatsgehalts – um aktiv “in die Partei” einzutreten, sagt und noch gesagt hätte, wenn das Portait auch zehn Stunden lang geworden wäre. Ein Bekannter habe ihr den Floh in den Kopf gesetzt, dass sie dank ihm als NSDAP-Mitglied ganz leicht beim besonders gut bezahlten “Rundfunk” landen könnte. Was dann auch eintrat – zu Goebbels Schreibtisch war es dann offenbar nur noch ein kleiner Schritt.
Der erste Satz den der Zuschauer in der Arbeit von Christian Krönes, Florian Weigensamer und Roland Schrotthofer hier zu hören bekommt, lautet: “Ist es denn schlecht, ist es denn Egoismus, wenn Menschen an dem Platz, an den sie gestellt wurden, tun, was für sie gut ist? und sie wissen, damit schade ich einem anderen … Aber wer tut denn das? So weit denkt man doch überhaupt nicht!” Und daher weiß man direkt wohin die Reise geht. Und doch erfährt man “zwischen den Zeilen” relativ viel über Anpassung und Realitätsverweigerung. Die Akte zur “weißen Rose” habe sie mal kurz in Händen gehalten, die war ansonsten immer im Safe, aber man habe ihr abverlangt nicht hineinzuschauen, sondern sie nur rasch von A nach B zu bringen, daran habe sie sich auch gehalten. Sie war halt immer zuverlässig. Wie viele andere hätte sie KZs für “Umerziehungslager” für tatsächlich Kriminelle gehalten. Einzig als sie mal mitbekam, dass einer ihrer geschätzten Radiokollegen dort gelandet sei, nur weil er schwul war, habe sie vielleicht leichte Zweifel gehabt. Aber generell gilt: “Nichts haben wir gewusst.” Und: Sie habe nicht “mit Goebbels” gearbeitet, sondern lediglich “bei ihm” – darauf legt sie wert.
Dass es dieses ambivalent zu betrachtende Zeitdokument überhaupt gibt, habe viel Überzeugungsarbeit gekostet – nachdem die BILD Jahre vorher ein Interview mit ihr stark verkürzt hätte, wollte Pomsel (“Auch das Schöne hat Flecken, und auch das Schreckliche hat Sonnenstellen. Es ist nicht schwarz-weiß, es ist immer ein bisschen Grau drin.”), die ab den 1950ern übrigens erneut zur Chefsekretärin aufsteigen konnte – innerhalb der ARD! – laut einem der Filmemacher eigentlich nie wieder mit Journalisten sprechen: “Wir machten ihr klar, dass wir sie nicht einfach als Schuldige oder Ewiggestrige vorführen wollten, dass sie die Gelegenheit haben würde, ihre Geschichte zu erzählen – die uns alle heute wieder betrifft. Unser Verhältnis zu ihr war recht ambivalent: Wir hatten da eine hochintelligente, sehr sympathische, wunderbar erzählende alte Dame vor uns, deren einstiges Tun und deren Verdrängung wir aber auch verachteten.” Explizit, so die Regisseure, sei die alte Frau sowohl zu ihrer russischen Gefangenschaft als auch zu dem was sie konkret für Goebbels so zu tippen, so zu tun hatte, befragt worden. Zu beiden Themen habe sie aber bewusst geschwiegen.