Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Eine Geschichte über Kindsmord, eine über Leben rund um einen Baum

Gleich zwei ganz besondere Filme starten am 09. März im Kino: In „Saint Omer“, angelehnt an wahre Begebenheiten, geht es um einen Gerichtsprozess. Eine junge Senegalesin hat vermeintlich ihr eigenes Kind getötet. Was als Frage „Mord oder nicht“ beginnt, entpuppt sich zu einer vielschichtigen Geschichte über Ausgrenzung und andere gewichtige Themen. Der Dokumentarfilm „Die Eiche – Mein Zuhause“ bedient derweil nahezu die gesamte Bandbreite der Kinematografie: ob Liebesfilm, Katastrophenfilm, Drama, Action oder Grusel. Und dabei spielt – wie der Titel vermuten lässt – tatsächlich alles “nur” in, auf, unter oder neben einer 200 Jahre alten Eiche.

Mit ihrem ersten Langspielfilm hat Regisseurin Alice Diop etwas für sie selbst sehr persönliches geschaffen. „Saint Omer“ erzählt vordergründig von einem Gerichtsprozess, bei dem eine junge Senegalesin wegen Kindsmordes verurteilt werden soll. Sehr bald zeigt sich, dass die Schuldfrage gar nicht so einfach zu beantworten ist, wie es am Anfang scheint. Der Stoff des Drehbuchs ist an eine wahre Begebenheit angelehnt. 2015 sah Alice Diop ein Schwarz-Weiß-Bild in einer Zeitung, aufgenommen von einer Überwachungskamera, wie eine schwarze Frau einen Kinderwagen schiebt. Da war bereits bekannt geworden, dass am selben Ort ein eineinhalbjähriges Kind ertrunken aufgefunden worden war. Die Spuren führten in der Folge zu der Senegalesin Fabienne Kabou, die ihre Tat auch zugab. Die Medien stürzten sich auf die Doktorandin, auf eine Intellektuelle, schrieben über ihren außergewöhnlichen IQ von 150, über ihre gewählte Sprechweise. Alice Diop war besessen von dieser Geschichte. Sie begleitete den Prozess. Und sehr viel von ihren Emotionen und Erlebnissen verpackt sie später in die Figur der schwarzen Pariser Professorin Rama.

Um nicht zu spoilern, hier nur so viel: Alice Diop, die für ihren Film „We“ 2021 unter anderem mit dem Dokumentarfilmpreis der Berlinale ausgezeichnet wurde, beschäftigt sich mit Brüchen weiblicher Biografien eingewanderter Frauen, ihren schwierigen Beziehungen zu eigenen Müttern, mit ihrem Schweigen, mit der Ausgrenzung und mit dem, wie die Regisseurin es nennt „unreflektierten“ Rassismus, mit dem sich Berichterstatter der realen Tragödie zum Beispiel über die Sprachgewandtheit der Doktorandin, die sich mit Wittgenstein beschäftigte, “wunderten”. Den Gerichtssaal gestaltet Diop fast wie eine Bühne. Ihre Hauptdarstellerinnen sind von der Leinwand her bisher weitgehend unbekannt. Valérie Dréville (die Richterin) etwa ist Theaterschauspielerin, Guslagie Malanda, sehr überzeugend in der Rolle von Fabienne Kabou (die im Film natürlich einen anderen Namen trägt: die Angeklagte wurde Laurence Coly  getauft) arbeitet als unabhängige Kunstkuratorin. Die Performancekünstlerin Kayije Kagame alias Rami alias Diop überzeugt mit ihrer phasenweiten Sprachlosigkeit. “Saint Omer” in dessen Verlauf auch der mögliche Einfluss von Hexerei, Anklänge an den Medea-Mythos  bis hin zu einer vermuteten Vernachlässigung durch den Kindsvater eine Rolle spielen, vor allem aber universelle Themen wie soziale Hierarchie und gesellschaftliche Zwänge mit verhandelt werden, errang beim Filmfestival Venedig den Großen Preis der Jury und ist offizieller Kandidat Frankreichs für den Auslands-Oscar 2023. In puncto Kameraarbeit ( Claire Mathon) und Dialoggestaltung in jedem Fall eine mehr als beachtenswerte Produktion.

„Die Eiche – Mein Zuhause“

Im Folgenden gibt es keine Film-Kritik, wie Sie es an dieser Stelle gemeinhin gewöhnt sind, sondern unumwunden eine reine Liebeserklärung! Selten gab es Naturdokumentationen, die tatsächlich von der ersten bis zur letzten Minute fesseln. „Die Eiche – Mein Zuhause“ tut das! Der namensgebende etwa 17 Meter hohe Baum steht schon seit gut 200 Jahren im Wald von Sologne in Zentralfrankreich. Ein Kalenderjahr wird hier zu einen knapp eineinhalb stündigen Ritt durch eine höchst diverse Natur- und Tierweilt geschrumpft. In den Hauptrollen sind neben dem ebenso knorrigen wie majestätischen Riesen unter anderem ein Eichhörnchen, Rüsselkäfer, Eichelhäher, Mäuse oder Ameisen zu sehen. Auch die Nebenrollen sind spannend besetzt: von Raubvögeln, Schlangen, Wildschweinen oder Rehen kriegt der geneigte Kinogänger ebenfalls Einblicke in den jeweiligen Alltag, in Fress- und Balzverhalten, erfährt viel über funktionierende Symbiosen eines so detailreich und verspielt noch nie eingefangenen Ökosystems mit einer schier unbeschreiblichen Artenvielfalt.

Gleich am Anfang packt einen dieser Film mit einem Katastrophenszenario – es ist starkes Unwetter. Ein ganzes unterirdische Labyrinth der Waldmäuse im Wurzelwerk der Eiche wird geflutet. Man kann kaum anders als mit den in Panik geratenden Pelztieren mitfiebern, die den Wassermengen zu entfliehen versuchen. Wenn dann ein paar Schnitte später die Sonne wieder scheint, erfreuen sich Rüsselkäfer aneinander. In die Eicheln legen sie danach mit ihren langen “Nasen” die Eier, aus denen später die nächste Generation schlüpft. Was in diesem Ausmaß wohl auch kaum ein Bio-Leistungskursler auf dem Schirm hat: Eine Eiche schützt und ernährt zahllose Mitbewohner gleichermaßen. Direkt und indirekt.

Hinter dem Projekt, für das eineinhalb Jahre gedreht und der Baum selbst rund 100 Tage u.a. mit Mikrokameras belagert wurde, stehen gleich zwei Regisseure: Laurent Charbonnier („Nomaden der Lüfte“, „Unsere Ozeane“) und Michel Seydoux (u.a. Produzent von „Cyrano von Bergerac“, „Birnenkuchen mit Lavendel“). Ihr gesamter Film läuft gänzlich ohne Kommentar, ist nur an manchen Stellen kurz mit passender Musik unterlegt. Diese Produktion erscheint nicht zuletzt dadurch dann richtig witzig, bleibt aber stellenweise richtig nervenaufreibend, etwa wenn sich eine Schlange zu einem Vogelnest hoch schleicht oder wenn ein Raubvogel einen Eichelhäher jagt. Das letzte Ereignis nimmt auf der Leinwand (“Die Eiche” ist ein Film den man unbedingt im Kino schauen sollte, selbst der beste TV wird nur das halbe Vergnügen liefern) atemberaubende 1,20 Minuten Raum, für das Team war allein jene Szene 15 Tage Arbeit.

Die Sammlung vieler kleiner Tier- und Wetter-Geschichten wird ergänzt mit Beobachtungen zum Baum selbst – durchweg absolut faszinierende Nahaufnahmen liefert diese Liebeserklärung an die Natur und an ihre Vielfalt. Und auch wenn der Satz “Die Eiche wirkt wie ein Mietshaus der Natur, in der die Nachbarn miteinander zanken und feiern” aus der PR-Schmiede der Filmemacher bzw. deren Verleih stammt: auch das trifft voll und ganz ins Schwarze.



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