Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Wenn Geister sprechen

Der herausragende Kinofilm „Im toten Winkel“ (startet am 04. Januar 2024) der türkisch-deutschen Regisseurin Ayşe Polat – eine Mischung aus Politthriller und Mystery – erzählt puzzleartig über den Umgang mit der Vergangenheit.

Ein deutsches Filmteam ist im Nordosten der Türkei unterwegs, um in einer kurdischen Siedlung eine Dokumentation zu drehen. Es geht um eine alte Frau, die versucht mit ihrem eigenen Ritual die Erinnerung an ihren vor 25 Jahren vermeintlich vom türkischen Geheimdienst entführten und ermordeten Sohn wach zu halten. Begleitet werden Redakteurin Simone (Katja Bürkle) und Kameramann Christian (Max Hemmersdorfer) dabei von der kurdischen Dolmetscherin Leyla (Aybi Era), die an manchen Drehtagen ihre Nachhilfeschülerin, die siebenjährige Tochter ihrer türkischen Nachbarn, Melek im Schlepptau hat. Auch ein Menschenrechtler und Rechtsanwalt soll für die Doku interviewt werden, allerdings taucht er nach einem Vorgespräch mit den Dreien nicht mehr auf. Als auf der Schnellstraße zur Siedlung die Frontscheibe des Film-Team-Autos von einem Stein oder gar einem Schuss beschädigt wird scheint allen klar: sie werden beobachtet.

Das erste Kapitel des Films im Film, das in betont ruhigem Stil erzählt wird, endet abrupt und hinterlässt viele Fragen. Die folgenden zwei Teile verdichten die Geschehnisse und erscheinen immer mystischer. Die gleiche Geschichte wird dann zunächst aus der Perspektive von Zafer (herausragend gespielt von Ahmet Varli) erzählt, dem Vater von Melek, der für eine undurchsichtige und gefährliche Organisation – Assoziationen an die “Grauen Wölfe ” scheinen gerechtfertigt- arbeitet. Mit einem Kollegen observiert er den Rechtsanwalt, wird im Zuge dessen auf das Filmteam aufmerksam und sieht dadurch seine Nachbarin in neuem Licht. Was für ihn zunächst nach einem gewöhnlichen Job aussieht, entwickelt sich zur Paranoia, als Zafer auf sein Handy anonym Aufnahmen von sich selbst und seiner Tochter bekommt, Bilder die erst wenige Sekunden zuvor erstellt worden sein können. So wird der Jäger selbst zum Gejagten. Das letzte Kapitel „Im toten Winkel“ widmet sich schließlich der kleinen Melek, deren ernste Augen und ihre unheimliche Aura sogar ihre Mutter oft einschüchtert. Das Mädchen behauptet, einen unsichtbaren Freund zu haben, der ihr Dinge erzählt, die es bei objektiver Betrachtung tatsächlich nicht so einfach wissen kann. Und dieser mystische Freund hat offensichtlich überhaupt keine Lust, dass die blutige Vergangenheit in Vergessenheit geriet, tickt also anders als es sich Zafers Auftraggeber wünschen…

Ayşe Polat (unter anderem „Auslandstournee“, 1999, „En Garde“, 2004) hat den mehrschichtig, puzzleartig angelegten Film „Im toten Winkel“, in dem die Spannung betont langsam aber dann fast unerträglich ins Unheimliche steigt, nicht nur inszeniert, sondern auch das Drehbuch geschrieben. Beim renommierten “Istanbul Filmfestival” wurde ihr jüngstes Werk, das weit mehr als ein “Kurdistan-Drama” ist, weil es im Grunde recht universell um die bei jedem Thema innewohnenden, verschiedensten Interessen beim Umgang mit Vergangenheit geht, mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem als der “Beste Nationale Film”.

Bei aller Mystik und gezieltem Weglassen jedweder Benennung konkreter Täter: es ist durchweg nachvollziehbar erzählt, wie Verdrängen und Verschweigen unheilvolle “Geister” hervorrufen. Das Gefühl klaustrophobischer Angst wird durch die in den Hauptfilm eingebauten Handyaufnahmen verstärkt, auch solche, die Zafer zum Selbstschutz  seinerseits unbemerkt von Dritten macht oder eben jene, die er betrachtet, wenn sie ihm von seinem anonymen Schatten zugeschickt werden. Während die harmlose alte Frau vom Einstieg in „Im toten Winkel“ weiterhin trauert, wird an anderer Stelle des Plots versucht, Gräber wieder “zuzumachen”. Meleks unsichtbarer Freund aber bleibt – nach dem Motto, die Vergangenheit kann nicht einfach begraben werden.

 

 

 



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