Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Film der Woche: Mit allen Mitteln der Kunst

In Sophie Linnenbaums Erstling „The Ordinaries“ ist die Hierarchie im Filmbusiness in eine strenge Dreiklassen-Gesellschaft geteilt: Hauptfiguren, Nebendarsteller und die so genannten Outtakes haben fernab der jeweiligen Einstellung nichts miteinander zu tun. Bis die Nachforschungen einer Schülerin der Hauptdarstellerschule zu ihrem Vater alles auf den Kopf zu stellen beginnen.     

Paula (Fine Sendel) ist kurz davor ihre Ausbildung mit Bravour zu beenden. Die 16-jährige ist die Klassenbeste und wenn sie ihre letzte Prüfung – eine emotionale Musik erklingen zu lassen – auch noch meistert, wie zuvor die Tests “im panischen Schreien” oder das “Klippenhängen”, ist ihr die Zukunft als Hauptdarstellerin in der glamourösen Filmwelt garantiert. Womit sie vermeintlich in die Fußstapfen des Vaters treten könnte, der wie ihre Mutter immer wieder voller Stolz betont, eine besonders heldenhafte Hauptfigur war.

Jene Mutter (Jule Böwe) war und ist zeitlebens Nebendarstellerin, verfügt entsprechend nur über eine sehr überschaubare Anzahl an Sätzen, wirkte auf der Leinwand stets ohne  nennenswerte Emotionen und kann diese auch im “echten” Leben nicht zeigen, so dass Paula nicht viel mit ihr auf Augenhöhe zu reden weiß. Ihren Vater hat die Nachwuchshoffnung indes nie kennen gelernt. Es heißt, er sei bei einem Aufstand der “Drittklassigen” ums Leben gekommen. Seit dieser Zeit werden die Outtakes – Fehlbesetzungen, schwarz-weiße, unscharfe, nicht oder falsch digitalisierte Figuren und viele weitere nervige Missverständnisse einer Filmproduktion – geächtet und an den Stadtrand in ein tatsächlich streng abgeriegeltes Ghetto gedrängt.

Paulas Abschlussarbeit an der Hauptdarstellerschule, so erfährt es der reale Zuschauer recht früh, soll “der Monolog zu ihrem Vater” sein. Damit dabei die für den imaginierten Kinogänger – die Film-im-Film-Ebene kommt hier vollends zum Tragen – stimmig erscheinende Musik erklingt, will sie mehr über ihn erfahren, als die zwei-drei Standartsätze ihrer Mutter bisher hergaben. Nachdem die junge Actress – völlig unerwartet – selbst im großen Institutsarchiv nichts über ihren Erzeuger findet, bekommt sie von unerwarteter Seite einige Hinweise, die sie in die Welt außerhalb der angesehenen Gesellschaft führen…

Die betont gesellschaftskritische, trotz über zwei Stunden Spielzeit äußerst kurzweilige Satire, die phasenweise auch im Genre Science-Fiction oder Fantasy einstufbar scheint, federleicht mit allen Errungenschaften und auch Hits der Filmgeschichte spielt, entsprechend mal mit einem (19)50er-Jahre Setting aufwartet, die Darsteller singen und tanzen lässt oder Elemente der “Truman Show” oder aus “Forrest Gump” aufgreift, ist die Abschlussarbeit einer gewissen Sophie Linnenbaum an der Babelsberger Konrad Wolf Filmuniversität. Ein Name den man sich merken sollte! Denn „The Ordinaries“ ist der mit riesigem Abstand originellste, künstlerisch kreativste Film aus deutscher Produktion, der es im aktuellen Jahr bisher ins Kino geschafft hat und wird dieses Prädikat vielleicht gar bis ins Finale retten. Und er ist bis hin zur kleinsten Nebenrolle, was hier in der Gesamtschau der vordergründigen Ausgangslage natürlich besonders ironisch erscheint, nicht nur formal prominent besetzt, sondern liebevoll doppelbödig ausgeklügelt.

In der Literaturwelt gibt es schon länger einige Autoren, die, wenn der Leser vermeintlich davor ist, ein Buch zuzuschlagen, Charaktere zum wirklichen Leben erwecken oder mit anderen originären Spielereien glänzen. Vergleichbares für die Filmkunst gab es bisher in dieser Ausgefeiltheit, wie sie Linnenbaum und ihre Mitstreiter vor und hinter der Kamera auf die Leinwand zaubern noch nicht. Die Nürnbergerin (Jahrgang 1986) schafft zusammen mit Drehbuch-Co-Autor Michael Fetter Nathansky eine gleichsam fantastische wie beängstigende aber de facto gar nicht so utopische Welt, die einerseits sehr kreativ mit technischen Möglichkeiten umgeht, andererseits beherzt gegen Diskriminierung und Ausgrenzung auftritt. „The Ordinaries“ lässt sich dabei bis zum Schluss nicht restlos in die Karten schauen, kommt immer wieder mit einer neuen Überraschung ums Eck. Etwa einem Wiedersehen mit Lassie, Henning Peker als Dienstmädchen, Riesenpixeln gegen aufsässige Filmfehler oder Geräuschen in kleinen Fläschchen.

Übrigens: das Team von “The Ordinaries” – und somit auch der Hamburger Verleih notsold und Port au Prince Pictures, die dieses charmante Plädoyer für die Freiheit der Kunst am 30.03.2023 in die Kinos bringen – darf sich, nachdem ihr Werk bereits beim Filmfest München mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino, bei der Leipziger Filmkunstmesse mit dem Publikumspreis  und bei den First Steps Award für den „Besten Abendfüllender Spielfilm“ ausgezeichnet worden war, über gleich zwei Nominierungen für den besonders begehrten deutschen Filmpreis freuen: für bestes Szenenbild (Josefine Lindner, Max-Josef Schönborn) und beste visuelle Effekte / Animation (Johannes Blech) – die “LOLAS” werden am 12. Mai in Berlin verliehen.



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