Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Sechzig Jahre Familiengeschichte auf Platt

Nach Dörte Hansens gleichnamigen Roman „Mittagsstunde“ drehte Lars Jessen („Am Tag als Bobby Ewing starb“, „Dorfpunks“) einen betont melancholischen, wenn auch phasenweise humorvollen Film über den Zerfall der alten Dorfstrukturen, über Verlust, Geheimnisse und Befreiung. Die Dialoge sind über weite Strecken in Plattdeutsch gehalten, der Film läuft mit Untertiteln.

Ingwer Feddersen ist knapp 50 und Dozent an der Kieler Universität. Als seine „Ollen“ zunehmend nicht mehr alleine klar kommen können, lässt er sich zwei Semester von Lehrtätigkeiten vor Ort freistellen: das Jahr Auszeit will er in seinem nordfriesischen Heimatdorf Brinkebüll im Kreise seiner Familie, der Elterngeneration verbringen. Die Feddersens hatten dort eine Kneipe, wo heute nurmehr Cowboys und -girls an manchen Tagen ihre Tanzschritte lernen. Und überhaupt, ist das ganze Dorf für Ingwer kaum wieder zu erkennen: die Straßen fast menschenleer, viele “blind gemachte” Schaufenster. Das Feddersen-Paar ist hoch betagt, der Vater fiebert der Gnadenhochzeit entgegen (70 Jahre), dieses Jubiläum habe bis dahin niemand in seinem Bekanntenkreis geschafft. Die Mutter hat Demenzprobleme, ruft Ingwer oft mit einem anderen Namen, läuft permanent von zu Hause weg. Und über all dem hängt die Erinnerung an die spurlos verschwundene Tochter der beiden, Marret. Diese Zeit in Brinkebüll wird für Ingwer eine Reise in die eigene Vergangenheit, mit schmerzlichen aber auch angenehmen Erinnerungen, mit neuen Erkenntnissen und Überraschungen.

Die Vorlage zum Film stammt von Dörte Hansens gleichnamigem Roman „Mittagsstunde“ (Regie Lars Jessen, unter anderem „Jürgen – heute wird gelebt“, „Für immer Sommer 90“) und die Autorin war selbst bei den Dreharbeiten beteiligt, gab sie doch den Schauspielern Unterreicht im örtlichen Plattdeutsch. Dass deutsche Filme komplett in Mundart und für Zuschauer mit Untertiteln laufen, ist spätestens seit Marcus H. Rosenmüller nichts Überraschendes mehr. Es sorgt für mehr Authentizität, und das ist es, was diesen melancholischen, mit feinem Humor gestrickten Film neben einer durchweg überdurchschnittlichen Ensembleleistung in erster Linie ausmacht: aber auch der Plot und das Setting wissen zu überzeugen.

Zwei kurz nacheinander kommende Jahreseinblendungen gleich zu Beginn des Films zeigen dem Zuschauer, dass es in der Geschichte neben der “Gegenwart” immer wieder Rückblicke in die Jahre 1968 und 1976 geben wird. Ab dann sind die drei Zeitstränge eng miteinander verwoben, die Übergänge fließend, die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Knapp 60 Jahre gehen an Brinkebüll nicht spurlos vorbei: alte Strukturen, wie der Tante-Emma-Laden oder die Schule, existieren nicht mehr; aus der Vielfalt auf dem Acker wurde eine Monokultur, die Landstraßen wurden geteert und deswegen musste auch eine große alte Kastanie fallen; die Störche sind weg, dafür fliegen Überschallflugzeuge über den Ort. Für Marret, ein junges Mädchen mit einer schönen Gesangstimme, war dies seinerzeit alles ein Zeichen des nahenden Weltuntergangs. Sie warnt die Dorfbewohner, aber keiner nimmt sie ernst, sie hat ja eine Schraube locker, gilt vielen Nachbarn und Gästen des elterlichen Wirtshauses seit jeher als sonderartig. Irgendwann bleibt nur noch ihr Fußabdruck, den sie auf nassem Zement im Hof der Feddersens eingeprägt hat.

Mit Hauptdarsteller Charly Hübner (u. a. „Das Leben der Anderen“) hat Regisseur Jessen schon einige Male gearbeitet. Viele Zuschauer kennen ihn als den Rostocker Kommissar Bukow aus dem „Polizeiruf 110“. Es ist beeindruckend, wie er den wortkargen Ingwer mit seiner besonderen Mimik, Gestik und Körperhaltung in all seinen Facetten darstellt. Unterstützt wird Hübner ebenbürtig von Kollegen verschiedenster Generationen: Peter Franke (u.a. „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“) spielt den alten Feddersen, der Ingwer am Anfang nicht zutraut, dass er die Pflege der „Ollen“ durchzieht, hat er sie doch aus der Sicht des alten Mannes schon einmal im Stich gelassen, als er wegging zum Studieren, statt die Familienkneipe zu übernehmen. Den Sönke Feddersen vor 50 Jahren spielt Rainer Bock. Gabriela Maria Schmeide (u. a. „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“) als seine jüngere und Hildegard Schmahl als die ältere Ella Feddersen wechseln sich im Plot in schöner Regelmäßigkeit ab. Schmeides Ella trägt viele teils offene Geheimnisse mit sich, mit denen ihr Mann zu leben gelernt hat. Die Theaterschauspielerin Gro Swantje Kohlhof stellt Marret (1965-1976) dar, ein verträumtes Mädchen und eine junge Frau, eng mit der Natur verbunden, mit ganz feinen Sensoren für Veränderungen, die ihrerseits vor Jahrzehnten das Familiengefüge auf eine harte Probe stellte, was der junge Ingwer seinerzeit nicht vollends mitbekommen respektive nachvollziehen konnte, wenngleich auch er phasenweise den dörflichen Mief, Klatsch und Tratsch nicht ausweichen konnte und wie auch die Gegend selbst unter der nebenher einsetzenden “Flurbereinigung” und beginnenden Landflucht zu leiden hatte.

„Mittagsstunde“ ist trotz des genreeigenen totalen Mangels an effekthascherischen Bildern ein Film der die große Leinwand und nicht nur eine Ausstrahlung auf dem heimischen Fernseher verdient – ab 22.09. bundesweit im Kino.  



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