In ihrer dystopischen Zukunftsgeschichte widmet sich Regisseurin Chie Hayakawa der so genannten Überalterung der japanischen Gesellschaft. Die “Lösung” für die damit assoziierten Probleme verspricht das staatliche Programm „PLAN 75“. So auch der Titel des Films.
Am 26. Juli 2016 tötete ein 26jähriger mit einem Messer bewaffneter Mann in einer Nacht 19 Menschen in einem Behindertenheim in Sagamihara. Der Täter war ein ehemaliger Pfleger dieser Einrichtung, er stellte sich danach und bot der japanischen Regierung in einem Brief unter anderem an, die Gesellschaft von Behinderten zu befreien, in dem er sie töte. Dieser Amoklauf wurde zum Auslöser für die junge Regisseurin Chie Hayakawa zunächst einen Kurzfilm über eine intolerante, von Rationalismus geprägte Gesellschaft zu drehen, in der ältere Menschen als Last für die Entwicklung des Landes angesehen werden. Vor einem Jahr lief dann die Langfassung von “Plan 75” in Cannes und wurde seither auf diversen Festivals mit Preisen überhäuft.
Auch in der Leinwandproduktion steht das Auslöschen mehrerer älterer Menschenleben durch einen Einzelnen am Anfang. Erfreulicherweise mittels verschwommener Bilder, aber die einschlägigen Geräusche und dann der umgekippt liegende Rollstuhl oder der verwaiste Gehstock produzieren auch so mehr als genug Kopfkino. In der Folge habe es Nachahmungstaten gegeben, ehe nun die Regierung mit der Stimmung in der Bevölkerung gegen die gefühlte Gerontokratie “Plan 75” neu ins Leben ruft. Das Programm solle der omnipräsent wirkenden Propaganda nach ermöglichen, dass Menschen die 75 Jahre oder älter sind, ohne Schmerzen und Leid, nach ihrem freien Willen zu einem selbst gewählten Zeitpunkt sterben können. Vorab gibt es sogar eine kleine finanzielle Prämie, umgerechnet etwa 600 Euro, um sich einen letzten Wunsch zu erfüllen. Die vermeintlich viel zu vielen alten, unproduktiven Menschen sollen den jüngeren Platz machen, ihnen nicht mehr direkt und auch nicht indirekt zur Last fallen. Und in der japanischen Gesellschaft, in der sich nach alter Tradition der/die Einzelne für die Nation aufopfert, denken viele tatsächlich darüber nach. Das staatliche Sparprogramm, das als Selbstbestimmung verkauft wird, funktioniert, weil viele ältere Bürger in finanziell prekären Situationen leben, bis ins hohe Alter arbeiten müssen, sich oftmals schämen Sozialhilfe zu beantragen, als potenzielle Mieter unerwünscht sind und große Angst vor “kodokushi”, dem einsamen Tod haben.
Die alleinstehende Michiko (Chieko Baisho) ist 78 und arbeitet trotzdem noch fast täglich als Putzfrau – zusammen mit zwei weiteren etwa gleichaltrigen Freundinnen in einem Hotel. Ihre Rente reicht kaum zum Leben, staatliche Unterstützung will sie nicht annehmen. Und nun kommt alles zusammen, eine ihrer Freundinnen stirbt, den Job verliert sie wegen ihres Alters, der Gebäudeblock, in dem sie wohnt, soll einem lukrativen Neubau weichen, also abgerissen werden, und eine neue Wohnung kann sie nicht finden. All das lässt sie über den “PLAN 75” nachdenken. Nach der Anmeldung lernt sie eine junge freundliche Mitarbeiterin, Yoko, kennen, die sie behutsam auf ihrem vermeintlich selbst bestimmten Weg begleiten soll. Aber ist es wirklich Sterbehilfe die irgendjemand von sich aus gesucht hätte? Der Kinozuschauer jedenfalls bekommt mit dem jungen Hiromu einen weiteren Mitarbeiter dieses (fiktionalen) staatlichen Programms präsentiert – dieser entdeckt eher zufällig, dass sich jüngst auch sein Onkel, der Bruder des verstorbenen Vaters, als “Klient” des “PLAN 75” angemeldet hat. Für Hiromu und Yoko war die telefonische Betreuung der vermeintlich Sterbewilligen bisher ein ganz normaler Job, sie hatten im Alltag kaum einen Bezug zu alten Leuten, sie sind freundlich, tun das was im Handbuch steht oder als Anweisung kommt – “Dienst nach Vorschrift”. Aber jetzt kommen ihnen ernste Zweifel.
Auch wenn es noch Zukunftsmusik ist: Das Gedankenexperiment geht gnadenlos unter die Haut. Der subtile Druck, den die Gesellschaft im Film auf die älteren Mitbürger aufbaut, das Perfide dahinter – die tatsächliche Gesundheit spielt keine Rolle, kein Arzt ist beim Beratungsprozess eingebunden, das Gehirne waschende Gefasel vom Wohle der Nation -wird regelrecht greifbar. Und man muss gar nicht nach Japan blicken, es reicht sich auch die Lebenssituation der hierzulande von Armut bedrohten und der tatsächlich armen alten Leuten vor Augen zu führen. Wie Michiko, gehen auch manch deutsche Rentner aus Scham oder Stolz nicht zum Sozialamt um finanzielle Unterstützung zu beantragen. Viele haben keine Familie, die sich theoretisch um sie kümmern könnte. Gäbe es ein Programm wie in der Kinoproduktion bereits: wie viele würden es in Anspruch nehmen? Die Vorstellung ist alles andere als beruhigend.
Im Vorfeld ihres Filmes befragte die Regisseurin ältere Frauen in Japan – mehr als 90.000 Hundertjährige leben in dem Inselstaat, knapp 30 Prozent der Japaner seien über 65 – beschrieb den noch fiktionalen “Plan 75”. Das Programm hätten viele für gut befunden, “wegen der Sicherheit, die er ihnen geben würde”, so Hayakawa. “Nicht, weil sie sich selbst loswerden wollen, sondern weil sie sich große Sorgen um ihr Alter machen und niemandem zur Last fallen möchten, auch nicht den eigenen Kindern oder ihrer Familie.” Die Lebenssituation in der modernen Zeit lässt es kaum noch zu, dass mehrere Generationen zusammen oder nah nebeneinander wohnen. In Deutschland schiebt man die Rentner ohnedies gerne in “Alten-Einrichtungen” ab. Dass dies zumindest tendenziell zu einer steigenden Gleichgültigkeit, wie bei den Protagonisten Hiromu und Yoko, führt, die Empathie für Ältere so sie jemals vorhanden war, verloren geht, ist zwar eine Binse, wird hier aber wieder eindringlich ins Bewusstsein getragen.
Hayakawa sagt: “Ich habe versucht, die Gesellschaft zu kritisieren, die der Wirtschaft und der Produktivität Vorrang vor der Menschenwürde einräumt. Das zu eliminieren, was sie ‘die Unproduktiven’ nennen, kommt dem Konzept des Faschismus sehr nahe. Obwohl wir keine Diktatur haben, wird eine solche Atmosphäre spontan unter den Menschen geschaffen. Das ist es, was mir Angst macht.”