Mit seinem Film „Passagiere der Nacht“ (Deutschlandstart 05.01.2023) versetzt der französische Regisseur Mikhaël Hers seine Zuschauer zurück in das Paris der 1980er Jahre: Eine kleine Familie durchlebt Hoffnung, Frust, Zukunftsangst, Wiederaufbäumen, Begegnungen und Abschiede. In der Hauptrolle die wunderbare Charlotte Gainsbourg – diesmal als sehr sensible und zerbrechlich scheinende Mutter zweier erwachsener Kinder.
Es ist der 10. Mai 1981 in Frankreich, François Mitterrand wird zum Präsidenten gewählt, die “Linken” feiern. Es herrscht eine Atmosphäre der Hoffnung und des Wandels in den Straßen von Paris. Bei Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) gibt es im Privaten hingegen gerade wenig hoffnungsvolles, ihre Ehe ging gerade zu Ende, sie ist nun allein mit zwei Teenager-Kindern – die Tochter studiert, der Sohn geht noch ins Gymnasium –, ohne Beruf und der Meinung, sie könnte nichts machen, sie wäre zu nichts fähig. Dann rauft sie sich doch zusammen und bewirbst sich für einen Job bei einem Radiosender. Fortan nimmt sie dort Anrufe entgegen, fischt die Spannung versprechenden für ihre Chefin, Late-Night-Talkerin Vanda (Emmanuelle Béart) heraus und oft nur wenige Augenblicke später sind die “Menschen wie du und ich” mit ihren Sehnsüchten und teils banalen Alltagserfahrungen auch schon live. So trifft Elisabeth irgendwann auch auf Talulah (Noée Abita): die wohnungslose Ausreißerin ist etwas älter als ihr eigener Sohn, spontan nimmt sie sie mit nach Hause, wo die junge Frau vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben die Wärme einer Familie erfährt. Talulahs freier Geist scheint die anderen anzustecken, vor allem die Mutter und den Sohn. Die Beiden haben auch sonst viele Ähnlichkeiten.
Berlinale-Besucher konnten „Passagiere der Nacht“ bereits im vergangenen Februar sehen. Nun startet der französische Film über familiäre Bande, Angst vor Verlust und vor Neuanfängen, über Hoffnung und den Mut, sich nicht unterkriegen zu lassen, auch regulär und bundesweit in den deutschen Kinos. In der Hauptrolle glänzt die diesmal ganz besonders wunderbar aufspielende und mit jedem kleinen Erfolgsmoment sich nachdrücklich zu emanzipieren (der Job bei der Radio-Show ist nach einer 1-Tageserfahrung in einem Büro ihr erster richtiger Schritt ins Berufsleben überhaupt, zudem war sie krebserkrankt, hat eine Brust verloren) weiter aufblühende Charlotte Gainsbourg als sehr sensible und zerbrechlich scheinende Mutter zweier erwachsener Kinder – Quito Rayon-Richter als schüchterner Mathias, der sich in Talulah verliebt, und Megan Northam als politisch interessierte Judith. Selten wurde so unaufdringlich und doch so nachhaltig gezeigt, wie jemand sein Leben neu entdeckt, Herausforderungen meistert. Obwohl viele richtig schwere Themen angerissen werden, ist es ein regelrechter Feel-Good-Film, aber einem dem man das formal gar nicht groß ansieht – der Optimismus schleicht sich beim Betrachter ebenso unmerklich wie charmant ein.
Zusammen mit seiner Crew (besonders herauszuheben Kameramann Sébastien Buchmann) schafft es Regisseur Mikhaël Hers („Mein Leben mit Amanda“, 2018), der hier auch für das Buch verantwortlich zeichnet, ein sehr authentisches Bild von fast einem gesamten Jahrzehnt – den “legendären” Achtzigern – zurückzuholen bzw. für junge Menschen das Lebensgefühl der damaligen Zeit nachvollziehbar zu machen: Er beginnt seinen Film, in dem auch Heroinsucht und Rohmers’ Vollmondnächte eine Rolle spielen wird, mit etwas grobkörnigen Bildern und weichen Farben; die Stimmung entsteht mit unaufdringlicher Einarbeitung von echtem Nachrichten-Archivmaterial in die fiktionalen Aufnahmen, mit stimmiger Musik bis hin zur Einrichtung von Elisabeths Wohnung. Und unbedingt durch den Arbeitsplatz, dem Late-Night-Radio, das in dieser Form bereits in der damaligen Zeit in Begriff war, langsam zu verschwinden.
Die Sendung, bei der die Leinwand-Elisabeth mitmachen darf, ist übrigens an eine reale Show „Les choses de la nuit“ mit der Rubrik „What’s your name?“ angelehnt. Dort erzählten Menschen von ihrem Leben, es durfte ausschließlich die Wahrheit sein, nur seinen Namen durfte man zum Selbstschutz ändern, wenn man wollte. Der Moderator konnte die Personen nicht sehen – sie waren zwar live im Studio, aber hinter einem Wandschirm versteckt. Bei einer ähnlichen Konstellation lernt im Film Elisabeth Talulah kennen…