Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Filmkritik: Alphabet – Doku von Erwin Wagenhofer

alphabet2Nach “We feed the world” und “Let’s make money” widmet sich der österreichische Dokumentarist Erwin Wagenhofer in “Alphabet” der Frage was wohl falsch läuft, dass von 98 Prozent aller Kinder, die hochbegabt zur Welt kommen, nach der Schulzeit nur noch zwei Prozent als hochbegabt gelten? Muss am Ende ein Bildungssystem, das aus der Zeit der früheren Industrialisierung stammt, vielleicht als gänzlich überholt angesehen werden?

Während Andreas Schleicher, deutscher Statistiker und Bildungsforscher – in der Öffentlichkeit besser bekannt als Koordinator der PISA-Studien – anerkennend mit dem Kopf nickt über die Erfolge der jungen Chinesen, wirkt Yang Dongping eher beunruhigt. Der Professor am Beijing Instuitut of Technology ist Leiter der staatlichen Organisation “Bildung des 21. Jahrhunderts” und an der Gesetzgebung seiner Regierung im Bereich Schule und Bildung beteiligt. Er ist sehr besorgt über die momentanen Bildungsstandarts in China, bei denen Kinder und Jugendliche einem unglaublichen Leistungsdruck und Konkurrenzkampf ausgesetzt sind. Nachhilfeorganisationen sprießen dort wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden und sind inzwischen gar börsennotiert – so groß ist die Nachfrage, insbesondere bei den betuchteren Chinesen. Die Kinder selbst, die für “Mathematik-Olympiaden” gedrillt werden, damit ihre Eltern stolz Medallien und Auszeichnungen vorzeigen können, wirken indes häufig extrem aphatisch. Auch dann wenn sie über ihre eigenen Erfolge berichten “dürfen”. Sie gewinnen am Start und verlieren am Ziel, fasst der chinesische Professor ihre Situation denn auch ebenso knapp wie ernüchternd zusammen.

Erwin Wagenhofer, einer der besten lebenden politischen Dokumentarfilmer im deutschsprachigen Raum, zeigt in “Alphabet” nicht nur am Beispiel Fernost warum Menschen vor allem in hochindustruiellen Ländern mit ihrem Leben häufig unglücklich sind, obwohl sie scheinbar alles haben. Warum werden viele von uns von Ängsten geplagt, warum wird kaum noch jemand ohne Medizin – und auch dann werden Probleme ja gemeinhin nur überlagert – mit einer Krisensituation fertig? Warum steht der Erwerb an sich höher als die Tätigkeit…

Mit diesen und vielen anderen Fragen im Kopf unterhielt sich der Österreicher mit zahlreichen Fachleuten und vertiefte sich in Studienergebnisse – letztlich kommt er zu dem Schluss, dass es vor allem daran liegt, wie ein System die Menschen auf das Leben vorbereitet, wie man sozialisiert wird, was und wie einem Bildungsorte etwas beibringen.

Zu all seinen gezeigten Alternativwegen hat Wagenhofer eloquent aber keinesfalls bedeutungsschwanger auftretende Interviewpartner vor der Kamera versammelt, die manchmal beiläufig, manchmal bahnbrechend wirkende Einzelerlebnisse berichten die mit teils traumwandlerisch schönen Bildern unterlegt und in einem genau passenden Tempo geschnitten wurden.

In England etwa sehen sich sechs Monate alte Babies eine kleine “Puppentheater”-Aufführung an: ein roter runder Kreis versucht einen Berg zu erklimmen, als er scheitert, kommt von unten ein gelbes Dreieck und schubst es liebevoll nach oben. In einem zweiten Durchgang schafft es der rote Kreis fast alleine bis zur Spitze, doch ganz kurz vorm Ziel taucht oben ein blaues Viereck auft und schubst den runden Gesellen wieder gen Anfang seiner Strecke – an mach unten! Danach durften die Kleinen zwischen dem “Helfer” und dem “Unterdrücker” auswählen. Alle wählten das Dreieck. Nach sechs Monaten wurde das Experiment wiederholt. Für den “Helfer” entscheiden sich diesmal nurmehr zwanzig Prozent der inzwischen Einjährigen…

Das Schulsystem in der westlichen, so genannt fortschritlichen Gesellschaft wie wir es auch in Deutschland kennen stammt – was Bildungspolitiker, Medien und andere Meinungsbildner hierzulande kaum hinterfragen – aus der Zeit der früheren Industrialisierung. Damals war zumindest inoffiziell das gesamtgesellschaftliche Ziel ausgegeben, künftige Arbeiter regelrecht zu drillen. Und hat sich in der Zwischenzeit etwas geändert? Steht die Kreativität im Vordergrund oder doch Konkurrenzfähigkeit und Leistungsorientierung? Wieviel geben aktuelle Lehrer auf die Haltung eines einzelnen?

“Alphabet” bezieht zwar klar Stellung, lässt aber auch genug Raum um etwa Modelle in denen Eltern ihre Kinder vom jetzigen Schulsystem fernhalten und dafür vom Staat regelrecht kriminalisiert werden, für sich zu bewerten. Aus unserer Sicht jedenfalls: absolut sehenswert!



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