Der Film „EO“ erzählt die Geschichte eines ehemaligen Zirkusesels fast überwiegend aus der Sicht dieses Tieres. Auf der Suche nach seiner Dompteurin durchläuft er in seinem neuen Leben zahllose Höhen und Tiefen, trifft auf die verschiedenartigsten Menschen. Starttermin des visuell betont kraftvollen Streifens ist der 22. Dezember 2022. Es ist zugleich der interessanteste Neustart der gesamten zweiten Dezemberhälfte in Deutschland.
Der graue Esel mit dem lautmalerischen Namen EO arbeitet in einem polnischen Zirkus. Gepflegt wird er von der jungen Kasandra (Sandra Drzymalska), die ihm sehr viel Fürsorge, ja fast so etwas wie Liebe wie für einen Bruder entgegenbringt. Der Esel hängt auch sehr an ihr. Durch gezielt einschüchternde Protestaktionen von „Zirkus ohne Tiere“ sieht sich die Direktion alsbald gezwungen, unter anderem den Esel zu „entlassen“. EO landet so zunächst in einem Pferdestall, wird weitergereicht zu einer Eselsfarm, zerfressen vor Sehnsucht nach Zuneigung und Geborgenheit, die er bisher nur bei Kasandra fand. Und so büxt das Tier mit tatsächlich sehr melancholisch anmutenden Augen aus und begibt sich auf die Suche nach ihr. Dabei macht er Begegnungen mit Menschen, die ihn mögen oder zum Tode verurteilen. Auch als “Therapie-Esel” kommt er zwischenzeitlich zum Einsatz und irgendwann bei der ganzen Odyssee, die mitunter auch über Ländergrenzen hinweg führt, in Szenen wo er manchmal scheinbar ziellos umher irrt, darf er zwischenzeitlich gar als Fußballmaskottchen herhalten und blickt dabei in finsterste menschliche Abgründe…
„EO“ ist der 18. Spielfilm des inzwischen 84-jährigen polnischen, mehrfach auch international preisgekrönten, Regisseurs Jerzy Skolimowski, dessen Karriere mit “Besondere Kennzeichen: keine” startete und 1970 mit “Deep End”, seinem ersten englischsprachigen Film, nicht nur in den Staaten einen kleinen Skandal hervorrief. Für die neueste, eine polnisch-italienische Gemeinschaftsproduktion gab es in Cannes dieses Jahr völlig zu Recht den Jury-Preis für den einstigen Vertreter der Nouvelle-Vague. Inspiriert habe ihn der Film „Zum Beispiel Balthasar“ von Robert Bresson aus dem Jahr 1966, in dem ein Esel namens Balthasar von Menschen missbraucht wird.
Von Tierschützern sind Aktionen wie im Anfang des Films sicher gut gemeint, aber auch im realen Leben ohnedies meist blindlings und ignorant, von der innewohnenden Doppelmoral, selbst wenn die Aktivisten “vegan” leben, ganz zu schweigen. Speziell bei Zirkussen wird oft verkannt, dass es – wenn es nicht gerade exotische Wildtiere sind – viele nicht menschliche Attraktionen, tatsächlich oftmals besser gehegt und gepflegt werden als so manches Haustier. In “EO” jedenfalls hat das Ausscheiden aus dem Zirkus für den tierischen Hauptdarsteller jedenfalls letztlich verheerende Folgen. Sein Wohl interessiert bezeichnenderweise keinen der Aktivisten – Hauptsache er ist nun weg aus der Manege, was nun mit ihm passiert geht allen außer Kasandra am Arsch vorbei.
Vor Skolimowski ist es kaum einem Regisseur so gut gelungen aus der Sicht eines Tieres zu erzählen, wenn er sich mit dem Versuch einer Naturtreue gar nicht groß aufhält – der Zuschauer erlebt förmlich, dass der Esel sehr wohl seine Umgebung wahrnimmt, Ungerechtigkeiten körperlich durchlebt, aber auch die Liebe und Treue kennt. Auf seinem Weg, auf der Suche nach Kassandra erlebt EO Gutes und Schlechtes; und das Schlechte, Übel kommt nur von Menschen, die sich selbst als Krone der Schöpfung nach einem selbst erfundenen Märchen sehen. Nebenbei liefert “EO” auch wohldosiert tiefe Einblicke in ein immer noch im Umbruch befindliches Land, namentlich polnische Lebenswirklichkeiten.
Die Hauptgeschichte wird von kleinen Nebengeschichten flankiert, zum Beispiel die einer über den verlorenen Sohn, in dem die französische Filmikone Isabelle Huppert einen Gastauftritt hat. „EO“ ist ein bildgewaltiger Film, der niemanden kalt lassen wird. Ins Kino bringt ihn der Verleih “Rapid Eye Movies” der seit vielen Jahren für herausragende Produktionen zuvörderst aus dem asiatischen Raum zu einer festen Größe im hiesigen Programmkinosektor avancierte.