Zwei aktuelle Filme widmen sich auf dem ersten Blick zuvörderst körperlichen Freuden. Im Mitelpunkt des einen Neustarts: eine Frau, die offenbar schon seit Kindheitstagen an unter Ess-Störungen leidet und nacheinander auf zwei männliche Zwillinge trifft. Und im anderen Streifen: eine ausgerechnet mit ihrem Bruder betrogene Frau, die wiederum beide eine andere Frau kennen, die in einer abgelegenen Hütte regelmäßig ein Geschöpf heimsucht, das – wie es Katja Nicodemus in der “Zeit” kurz und knapp auf den Punkt bringt – “aus mehreren Dutzend tentakelartiger Penisse und einem gesichtslosen Kopf besteht”. Aber sowohl in François Ozons „Der andere Liebhaber“ als auch in der mexikanischen Produktion “The Untamed” von Amat Escalante geht es nicht nur zwischen den zeilen um weit mehr als “nur” Sex und die entsprechenden Machtspielchen.
Louis (Jérémie Renier) und Chloé (Marine Vacth) – zwei der drei Hauptfiguren in Ozons (“Acht Frauen”, “Swimming Pool”, “Ricky”) neuestem Streifen agieren ebenso wie der dritte Protagonist der Geschichte (“Paul” – wie sein vom gleichen Darsteller verlörperter “Bruder” ein Psychoanalytiker) fast die gesamte – 107-minütige – Spieldauer des Erotikthrillers „Der andere Liebhaber“ (übrigens eine Romanverfilmung nach Joyce Carol Oates) befremdlich bedeutungsschwanger und extremst unnatürlich. Teilweise ist das zwar in den Rollenbildern angelegt – die Kühle, das teils überspielte Unsichere, Katz- und Maus-Spiele, Dominanz, auf Distanz-Halten. Aber auch Menschen, die die Arbeit Ozons spätestens seit seinem unseres Erachtens tadellosen Kammerspiel “Tropfen auf heiße Steine” intensiver verfolgen und weitgehend schätzen, können sich hier rasch langweilen. Und dann doch, wenn nicht gerade softer oder wahlweise – je nachdem welcher Bruder herade mit Chloé interagiert – Sex im Bildzentrum steht, in Anbetracht der einen oder anderen beispielswiese intimen und schmerzhaften Innenansicht der Figuren mitleiden.
Apropos Perspektivwechsel: neben einer langen Schiilderung eines recht drastischen Frisurwechsels mit höchst interessantem Mimikspiel vonVacth, beginnt das Ganze mit einer Kamera, die im Inneren einer Vulva steckt. Die dann folgenden, formal betrachtete schier zahllosen Twists der eigentlichen Handlung sollen in der Zwillingsgeschichte – und die seltsamsten Filmkritiker attestieren dem Streifen dann gar selbige Momente – Überraschungen für den Zuschauer bereit halten und gar den einen oder anderen Hauch von Tiefenpsychologie versprühen. Aber unter’m Strich ist es eine ziemlich fade, leicht vorhersehbare Geschichte mit – auch was die trotzdem gelungene Bildarbeit angeht – diversen Verbeugungen vor verschiedensten Regieassen. Dem Genre von Geschichten über Frauen, die mit ihrem Psychoanalytiker zusammen kommen, in diesem Fall sogar heiraten, hat “Der andere Liebhaber” ebenso wenig originäres hinzuzusetzen, wie den Kinoproduktionen, die mit dem Bild spielen, dass es bei Zwillingen, stets einen Guten und einen Bösen geben könnte. Wobei: wie fast immer bei François Ozon bleibt auch hier für manchen betrachter die Frage unbeantwortet, wieviel hier an intendierten Wirklichkeiten und Phantasiegebäuden der einzelnen Protagonbisten vermengt wurde.
“The Untamed”
Offensichtlicher im Unbewusstem wühlt “The Untamed” und legt dabei gleichzeitig zwischen den Zeilen zu ein paar vermeintlich omnipräsenten Probleme seines Herkunftslandes den Finger in die Wunde: etwa zur Homophobie oder zur Doppelmoral in einer männerdominierten und auch immer noch den “traditionellen Werten” von Ehre und Familie verpflichteten Gesellschaft.
Zu Beginn der Geschichte trifft der Zuschauer auf eine Frau in einer offenbar etwas abgelegenen Hütte, die – so scheint es im Verlauf – von zwei älteren Wissenschaftlern gezielt bewacht wird, damit hier nicht jede/r an seine eigenen Grenzen und schlimmstenfalls darüber hinaus gelangt. Denn hier wohnt ein Getier, das augenscheinlich wie ein Meteor auf die Erde kam und nun unter anderem besagte, etwa zwanzigjährige Victoria magisch anzieht. Größeren Wunden, wie von einem gemeingefährlichen Pitbull-Terrier-Angriff, zum Trotz.
Im Grunde geht es aber gar nicht so sehr um sexuelle Gelüste (wir erinnern an das Nicodemus-Zitat im Teaser) denn um allzu Menschliches, verdrängte Gefühle, Lügen und Intrigen, Abstumpfung, Missgunst – und eben gesellschaftliche “Normen” im Kleinbürger-Milieu. Bildsprache (Kamera: Manuel Alberto Claro) und Soundgewand tun hier ein Übriges um die Zuschauer nahezu permanent an Horror und Science-Fiction erinnern zu lassen. Escalante (sein Debütfilm “Sangre” wurde 2005 in Cannes vorgeführt) liefert hier eine absolute Filmperle – “The Untamed” ist ein fulmanter und gleichwohl durchweg stimmiger Genremix mit durchweg glaubhaften Darstellern: Ruth Ramos, Jesús Meza, Eden Villavicencio und vor allem Simone Bucio spielen höchst interessante Figuren, die mitunter auf Wölfe und böse Schwiegermütter treffen, und schaffen es trotz fest in die Geschichte eingewobener Momente des exploitation- und fantasy-Kinos, die sozialen Themen stets Oberhand gewinnen zu lassen. Schön, dass der recht junge Nürnberger Verleih “Forgotten Film Entertainment” den Streifen nun in Deutschland einem breiteren Publikum bekannt macht, nachdem er bereits erfolgreich (Silberner Löwe für die Beste Regie) im Spätsommer 2016 (!) auf dem Filmfestival in Venedig lief.