“The Most Beautiful Boy in the World” – so titulierte Luchino Visconti vor gut 50 Jahren den jungen Hau(p)tdarsteller in seinem „Tod in Venedig“. Nun begleiteten zwei Regisseure für ihre gleichnamige Dokumentation den damals 15-, heute entsprechend 67-jährigen Björn Andrésen und zeigen, was dieser Spruch an und in ihm bewirkt hat.
1970 reiste der bekannte Filmemacher Luchino Visconti auf der Suche nach einem perfekten Jungen, um die Rolle von Tadzio in der Romanvorlage von Thomas Mann „Tod in Venedig“ zu besetzen. Er hielt Ausschau nach “vollkommener Schönheit”. Und so eine fand er in Stockholm: Björn Andrésen, ein schüchterner 15-jähriger Teenager, der ohne Mutter bei seiner Oma aufwuchs, mit blonder Mähne, mädchenhaft hübschem Gesicht und somit tatsächlich eine besondere Art von Unschuld vermittelnd. Kurz vor der Premiere in Cannes sprach Visconti über seinen Hauptdarsteller, dem er dem Vernehmen nach einzig “Geh, stopp, dreh dich um, lächle!” als Regieanweisungen gegeben haben soll, als „den schönsten Jungen der Welt“. Diese Bezeichnung blieb an Andrésen ein Leben lang kleben und erwies sich mehr als Fluch denn Segen.
„Der schönste Junge der Welt“ heißt auch der Dokumentarfilm von zwei Regisseuren, Kristina Lindström („Palme“, 2012) und Kristian Petri, der Ende Januar 2021 beim Sundance Film Festival seine Premiere feierte und nun in Deutschland (ab 29.12.2022) auf der Leinwand zu sehen sein wird. Die Geschichte eines immer noch irgendwie kindlich wirkenden Mannes, dessen Leben im jungen Alter auf den Kopf gestellt wurde und der sich von den Folgen von damals bis heute offenbar kaum erholt hat, wurde von den Machern für eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Best Documentary Feature eingereicht.
Es ist eine Reise durch die persönlichen Erinnerungen des schwedischen Schauspielers und Musikers Björn Andrésen über das Casting zum “Tod in Venedig”, über die Dreharbeiten in Italien und die Teilnahme am Wettbewerb von Cannes, sowie nebulösen Andeutungen über die anschließende Premierenfeier der überwiegend homosexuell orientierten Filmcrew in einem Schwulenclub. Aber auch über sehr, sehr Privates, etwa seinem Versuch, die traurige Geschichte seiner Mutter aufzuarbeiten wie vielleicht der allerletzte Versuch, sein Leben endlich in geregelte Bahnen zu lenken. Als die Mutter, eine hübsche intellektuelle freie Frau, spurlos verschwunden war, wuchs der junge Björn mit der Schwester in Obhut der Oma auf, die alles dafür tat, dass ihr Enkelsohn ins Rampenlicht kam. Und als das passierte, war niemand da, der den Teenager hätte auffangen können, als dieser zunehmend den Boden unter den Füssen verlor. Nach dem berühmten Visconti-Film landete er in Japan, wo er angehimmelt und neben anderem als Vorbild zu einem bestimmten Manga-Typus wurde.
Die Filmemacher haben reichlich Archivmaterial durchgearbeitet, Björns Spuren folgend sind sie unter anderem nach Japan gereist, haben Menschen ausgegraben, die ihm damals über den Weg gelaufen sind, und zusammen mit Andrésen die Identität seines Vaters gesucht. Wenngleich die Dokumentation an einigen Stellen etwas zerfahren wirkt, es ist sehr spannend die Geschichte eines Jugendlichen zu verfolgen, der zu einer Ikone wurde, was nicht nur sein junges Leben gründlich überschattet hat. Denn der Kinozuschauer erfährt hier nebenbei auch, wie Björn seinen eigenen Sohn verlor und dass der wohl schon lange recht ausgemergelte Mann akut von Zwangsräumung bedroht ist, und generell eher bindungsunfähig zu sein scheint. Unter’m Strich jedoch ist es ein äußerst ambivalentes Werk, denn streng genommen wird Andrésen ein zweites Mal allumfassend für ein Leinwandwerk instrumentalisiert.