Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Von Nuklearversuchen und Transsexuellen

In “Pacification” (Kinostart: 02.02.2023) haftet sich der katalanische Regisseur Albert Serra dem opportunistischen Vertreter des französischen Staates in “dessen Überseegebiet” an die Fersen. In paradiesischer Natur, im Delirium der Hitze und in Nachklubs braut sich etwas zusammen.

Der fiktionale, aber für alle die europäische “Diplomaten” im Ausland kennen, die dort nicht nur kurz zu Besuch sondern “abkommandiert” sind, sehr lebensnah gezeichnete Hochkommissar De Roller ist der ranghöchste Beamte der französischen Regierung in Polynesien. Vergleichbar mit einem Präfekten in seiner fünfzehntausend Kilometer entfernten europäischen Heimat. Hier in der Südsee versucht er sich fortlaufend im Schreiben, ist immer in Bewegung, trifft sich mit verschiedensten Menschen, versucht dabei auf seine spezielle Art und Weise die Gemütsverfassung der örtlichen Bevölkerung vorherzusehen. Das scheint ihm aktuell wichtiger denn je. Denn in letzter Zeit häufen sich die Gerüchte, die Franzosen könnten ihre Atomtests (die im realen Leben in den Jahren zwischen 1966 und 1996 auf Tahiti stattfanden) im Fischerparadies wieder aufnehmen. Es sei ein U-Boot gesichtet werden. Außerdem taucht ein recht merkwürdiger General mit einem zahlenmäßig auffälligen Gefolge an Matrosen im beliebten Nachtklub auf, gibt sich betont wortkarg, weicht allen Fragen aus. De Roller, der am Anfang versuchte die Gerüchte zu ignorieren, wird mit der Zeit misstrauischer. Er befürchtet, dass ihm die Dinge entgleiten, dass er nichts mehr managen kann, dass alles außerhalb seiner Macht entschieden wird oder – noch schlimmer – bereits unwiderruflich entschieden ist.

„Pacification“ (so viel wie Befriedung, Versöhnung, Beruhigung) ist ein äußerst bemerkenswerter und absolut sehenswerter jedoch gleichwohl fordernder Film des katalanischen Regisseurs Albert Serra. Uraufführung für die ausschließlich im südpazifischen Überseegebiet “Französisch-Polynesien” angesiedelte Erzählung war letztes Jahr in Cannes. Serra, den man insbesondere mit Filmen über historische Themen kennt (u.a. Der Tod von Louis XIV, Der Sonnenkönig), schrieb für seinen neuen Streifen auch das Drehbuch. Mehr als zweieinhalb (!) Stunden darf der Kinogänger den leutseligen Hochkommissar beobachten, der häufigst in einem hellbeigen Anzug gekleidet auftritt (und damit sicher nicht zufällig an Klaus Kinski in Werner Herzogs “Fitzcarraldo” erinnert), ohne ihm wirklich näher zu kommen. Außer vielleicht in den relativ wortreichen Szenen, wenn de Roller der transsexuellen Mitarbeiterin Sannah (Pahoa Mahagafanau) begegnet. Andere Passagen des Films sind gänzlich ohne Dialoge gehalten. Dafür entsteht beim Zuschauer nach und nach das Gefühl als sitze man im Kopf der Handelnden, würde ihre Gedanken lesen. Die  vielfältigen gesellschaftlichen Probleme werden am Rande gestreift, sei es die ablehnende Haltung der puritanischen Kirche zur Eröffnung eines Spielkasinos, die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen, die Korruption, die Prostitution, die perfiden Strukturen des immer noch fortdauernden Kolonialismus an sich…

Der hervorragende Benoît Magimel (u.a. Die Klavierspielerin) verkörpert den Hochkommissar, der, wenn seine allerdings nicht ganz klaren Hauptaufgaben  abgearbeitet sind, mit Leidenschaft eine tahitische Tanzgruppe eine Hahnenkampfszene üben lässt und zuletzt mit einem Fernglas “bewaffnet” das Meer nach weiteren verräterischen Zeichen inspiziert. Äußerlich gelassen wirkend vermittelt er Zuschauern die vermeintliche Paranoia, die langsam aber stets in ihm und um ihn herum wächst. Der Schauspieler hatte dem Vernehmen nach kein Drehbuch, sondern war vielmehr permanent mittels Ohrhörer mit dem Regisseur verbunden, bekam seine Dialoge diktiert und musste diese spontan umsetzen, egal wie absurd oder alltagsfern das jeweils schien. Das Resultat ist hohe darstellerische Kunst in einem farbenfrohen aber doch auch irgendwie erdrückenden Ambiente.

 

 

 

 

 

 



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