Ihre Trüffelschweine im fränkischen Einheitsbrei

Licht und Schatten aus der Schweiz

Der ausschließlich mit Laiendarstellern besetzte, ebenso fulminante wie tiefgründige Spielfilm “Chrieg” (Krieg) zeigt desillusionierte Jugendliche, die sich als Alternative zur augenscheinlich jeweils schwierigen Familien- bzw. Lebenssituation eine eigene Welt erschaffen und diese mit allen Kräften verteidigen. Die Doku “Wer hat Angst vor Sibylle Berg” stellt, wie deren Titel unschwer erahnen lässt, die als Schriftstellerin, aber auch als Spiegel-Online-Kolumnistin bekannte Wahlschweizerin in den Mittelpunkt und tut mit weiteren Promis wie Katja Riemann absolut gekünstelt ungekünstelt.

Chrieg_Plakat“Chrieg” bedeutet “Krieg” auf Schwiizerdütsch und ist – wir nehmen es einfach mal vorweg, es ist unser Filmtipp der Woche – aus zweierlei Hinsicht Programm: erstens, die Geschichte wird konsequent im Dialekt (in Deutschland im Kino mit Untertiteln) erzählt, sorgt unter anderem auch dadurch für wohltuende Authentizität; zweitens, es geht tatsächlich um eine Form von Krieg. Zwar nicht Imperiale um Bodenschätze oder Kämpfe von oder gegen ethnische(n) Minderheiten oder ähnliches – aber das Aufbegehren einiger Jugendlicher gegen die mal oberflächliche, mal verlogene Welt der Erwachsenen, geht hier tatsächlich sehr intensiv von statten.

Apropos Authentizität: Regisseur Simon Jaquemet hat sein Darstellerensemble komplett mit Laien bestückt. Und nicht nur das. Auch die Filmcrew, mit Ausnahme einiger weniger zentraler Posten. Das für einen solchen Schritt auch hier mit verantwortliche kleine Budget merkt man “Chrieg” indes ganz und gar nicht an. Im Gegenteil. Die Darsteller sind famos, die Bilder imposant – ein schlichtweg rundum stimmiges Filmerlebnis. Keine leichte Kost, überhaupt nicht: Erzählt wird die unbedingt sehenswerte Geschichte von Matteo, einem wortkargen sechszehnjährigen Jugendlichen, der nur in seinem gerade einmal einige Monate alten Bruder so etwas wie Familie erlebt. Seine Eltern sind geistig wohl schon lange sehr weit weg von ihm – besonders der Vater, ein Möchtegern-Macho. Als sich die jugendliche Hauptfigur einmal, ohne den Eltern Bescheid zu sagen, den kleinen Bruder für einen spontanen Ausflug in den Wald schnappt und dabei ein kleiner Unfall passiert, setzt ihr Erzeuger einen dem Vernehmen nach wegen Haschischkonsum seines Filius schon vorher in Erwägung gezogenen Plan in die Tat um: Matteo muss in ein so genanntes Bootcamp – irgendwo in den Bergen. Tatsächlich wird der vermeintliche Delinquent mitten in der Nacht von zwei Fremden aus dem Bett gezerrt und wie ein Verbrecher abgeführt. Im Camp – eine heruntergekommene Hütte – angekommen, trifft er auf drei weitere Jugendliche, davon ein Mädchen, das als “Typ” akzeptiert und wahrgenommen wird. Matteo muss feststellen, dass hier nicht der versoffene Campleiter das Sagen hat, sondern die Gleichaltrigen, die sich hier zum Teil vor dem Gesetz und vor ihren Eltern verstecken. Nach einigen derben Erniedrigungsspielchen und Mutproben wird er in ihre Gang aufgenommen und zieht mit den Dreien alsbald wie auf einem Rachefeldzug durch die Nächte in benachbarte Orte. Irgendwann beschließt er, seinem Vater eine Lektion zu erteilen, verfolgt ihm und entdeckt ein bitteres Geheimnis, das alles auf den Kopf stellen wird…

Schnörkellos, ohne Vorurteile erzählt Regisseur Jaquemet von entwurzelten Jugendlichen, eine Geschichte, die nicht zuletzt wegen deren nachvollziehbarer (Zerstörungs)Wut hart in der Magengrube liegen bleibt. Matteo alias Benjamin Lutzke bekam auf dem letztjährigen Max-Ophüls-Filmfestival den Preis als bester Nachwuchsdarsteller. “Chrieg” selbst wurde dort 2015 mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Ein absolut sehenswerter Film, in dem auch die karge bergige Schweizer Landschaft bestens zum Plot passt.

Ebenfalls neu im Kino: Die Doku “Wer hat Angst vor Sibylle Berg”

Sibylle_Berg_Hegemann_Riemann
Leider ganz anders – und das tatsächlich ausnahmslos von der ersten bis zur letzten Minute – ist das “Filmerlebnis” mit der Doku der Regisseurinnen Sigrun Köhler und Wiltrud Baier, die ihre künstlerischen Arbeiten auch unter der Marke “Böller und Brot” vermarkten. Ein Kernproblem: sie lassen jegliche Distanz zu ihrer Protagonistin vermissen. Nah kamen sie der Schriftstellerin Sibylle Berg trotzdem oder gerade deswegen nicht – unterstellt, dass das letztlich für die Leinwand ausgewählte Material halbwegs repräsentativ für die gesamten entstandenen Aufnahmen ist. Laut Böller und Brot, habe die Künstlerin jedenfalls nur zwei, drei Sätze aus dem Film raus schneiden lassen – dieses Recht hatte man ihr im Vorfeld zugestanden. Die inhaltlich und räumlich vorzugsweise rund um vermeintliche architektonische Besonderheiten oder am Rande von Theaterproben zu einem Berg-Stück oder Lesungen der “Kollegin” Hegemann nachzuerlebenden “Interviews” sind weder in irgendeiner Form nuancenreich oder wenigstens nur ansatzweise lustig, geschweige denn erhellend und pointiert. Teils noch durch Unprofessionalität in Sachen Ton- und Licht kommt die ganze Produktion ziemlich anstrengend daher. So darf man Frau Berg beim Pulen zwischen ihren Zehen beobachten, ihre Gedankenergüsse über Häuser oder Schriftstellerdenkmäler, über die DDR oder Politiker verfolgen beziehungsweise dabei “lauschen”, wie sie die Arbeit einer Regisseurin über ihr Stück beobachtet. Von ihr selbst erfährt man nichts, außer einer Minisequenz, wo sie von peinlichen/gehässigen Leserzuschriften zu berichten weiß, auch nicht wie, geschweige denn warum sie “gehasst” wird oder wer sich (schwache Männer?) vor ihr fürchten würde.

Selten war ein Dokumentarfilm so belanglos und überflüssig wie dieser. Dass gefühlt alle fünf Minuten irgendein früherer Tweet der Frau Berg in Szene gesetzt wird, den die Autorin dann in einem Pseudospiel aus Medienkritik und behaupteter Selbstironie wohl so verstanden wissen will, dass sie halt nur sehr intelektuell mit dem so genannten Social Web zu spielen vermag, dass es der Pöbel halt letztlich nicht zu würdigen weiss, ist letztlich nicht das Peinlichste – das toppen Promis, die Berg natürlich^^ zufällig während der Dreharbeiten begegnen und wie Katja Riemann absolut gekünstelt ungekünstelt erscheinen wollen.

Für den Teil unserer Leser, die die Portraitierte nur mal am Rande in einer Harald-Schmidt-Show gesehen und sich da schon gelangweilt hatten: Vor knapp 20 Jahren ist Bergs erster Roman “Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot” erschienen. Der Spiegel war von dem Erstling begeistert, engagierte die in Weimar geborene und in die Schweiz ausgewanderte Künstlerin Jahre später als Online-Kolumnistin. Anders als bei ihren Büchern muss man als jemand, der auf der Welt eben nicht mit zweielei Maß misst, bei vielen von Bergs Arbeiten für “SPON” mit dem Kopf schütteln. Etwa wenn sie in peinlicher Penetranz Lanzen für den unter Netanjahu leider alles andere als demokratischen, alles andere als friedliebenden Staat Israel bricht, und so tut, als ob jeder der eben just auch zahllose Verbrechen gegen Zivilbevölkerung in Gaza kritisiert antisemitisch sei, oder jeder, der in Anbetracht bundesdeutscher Wirklichkeien sich mehr und lauter um Leib und Leben von Asylbewerbern (deren Unterkünfte – keineswegs nur im Osten – nicht erst seit der “Flüchtlingswelle” im vergagenen Jahr wieder regelmäßig brennen) sorgt als darum, dass vermeintlich jemand, der betont gestelzt mit Kippa durch Neukölln läuft, vielleicht mal einen schiefen Blick erntet, was für Frauen anderer Religion, erst recht wenn sie mit Kopftuch in Deuschland unterwegs sind, oder andersweitig als Muslima identifizierbar scheinen, noch ein eher harmloses Erlebnis darstellen würde.

Beispiel gefällig für Bergs distanzlose Nähe zur Politik des Staates Israel, den sie offenbar mit dem Judentum verwechselt und jeden Kritiker verteufelt? Als zwei Politikerinnen der Partei “Die Linke” vor einem Jahr einen israelischen und einen US-amerikanischen Juden – beide Kritiker der Regierung Netanjahu – in Berlin eingeladen hatten, und einer von ihnen Gregor Gysi, der öffentliche Auftritte von ihnen tatsächlich mit einer peinlichen Medienkampagne zu verhindern suchte – zum klärenden Dialog aufforderte, machte sich die Schriftstellerin lustig über die beiden Gastgeberinnen: Nach dem Motto sie seien Isreal-Kritikerinnen geworden wegen ihrer Sehnsucht nach “feurigen Männer(n) Palästinas”. In Berlin hätten sie ein Ziel gefunden, “Für ferne Geliebte zu kämpfen”.

Ein noch schlechterer Witz ist nurmehr, dass Kollegen in Anbetracht der speichelleckendenden, unfreiwillig tragikomischen Berg-“Doku” tatsächlich noch “Schmerz, Fragilität” oder gar Geistreiches entdeckt haben wollen, während rund dreiviertel des Films in Wahrheit im Grunde nur aus Palaver über Sibylles Wohnträume und sonstige Architekturvorstellungen und Lobhudeleien über bzw. Smalltalk mit der jüngeren Schriftstellerkollegin Hegemann und last but not least Koketterie, im Grunde ja gar keine Interviews geben zu wollen, besteht. Wir hatten uns ja just etwas Kontroverses oder eben wenigstens Geistreiches oder notfalls auch “nur” Erhellendes erhofft – aber das war leider vergebens. Selbst „…höchst unterhaltsam…“ ist hier leider gar nichts. Vielmehr muss das Urteil leider lauten: Ein Besuch von “Wer hat Angst vor Sibylle Berg” ist schlichtweg verschwendete Lebenszeit.



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